Freitag, 15. Oktober 2010

Der Hundertjährige Krieg Teil 2/2

Von Stefan Sasse


Dies ist die Fortsetzung des ersten Teils



Die Schlacht von Azincourt
1415 entschied sich Henry V., der mittlerweile seinem Vater Henry IV. auf den englischen Thron nachgefolgt war, das französische Angebot, die Grenzen des Brétigny-Friedens endgültig herzustellen, abzulehnen und stattdessen den Krieg wiederaufzunehmen. Zu diesem Zweck stellte er eine Armee auf und landete bei der französischen Hafenstadt Harfleur. Die Belagerung allerdings zog sich deutlich länger hin, als Henry erwartet hatte. Seine Pläne, nach der Einnahme auf Paris zu marschieren und den Feind so final zu schlagen, waren damit wertlos, denn als Harfleur endlich fiel, war die Feldzugsaison schon fast wieder um (man muss sich vor Augen halten, dass Kriege lange Zeit vor allem im Sommer geführt wurden, wenn es leicht war das Heer zu ernähren, indem man die fast reifen, aber noch nicht geernteten Feldfrüchte der Bauern für sich nutzte und so gleichzeitig den Feind seiner Lebensgrundlagen beraubte). Henry V. entschied sich deswegen, statt auf Paris in einer Art Wiederholung des Feldzugs Edward III. direkt auf das (nun englische) Calais zu marschieren und auf dem Weg dorthin das Land zu verheeren, damit die Wirtschaftskraft des Gegners zu schwächen und die Autorität der französischen Krone zu unterminieren. Wie bereits bei Edward III. ging das ganze schief: eine deutlich größere französische Armee maneuvrierte Henry V. aus und stellte sich ihm bei Azincourt in den Weg. Ohne Vorräte und praktisch ohne Chance blieb Henry keine andere Möglichkeit mehr, als wie Edward III. bei Crécy die Schlacht anzunehmen.


Vermutlich hätte der Krieg 1415 bei Azincourt effektiv enden können. Henry hinterließ keinen regierungsfähigen Erben, und wie die Geschehnisse nach seinem frühen Tod 1422 zeigen sollten, war ohne einen starken, an den französischen Besitzungen interessierten Monarchen das englische System nicht fähig den Krieg mit der notwendigen Ernsthaftigkeit zu führen. Doch einstweilen war das alles Zukunftsmusik, denn die französische Ritterschaft verspielte auf dem Feld von Azincourt ihre Zukunft und ihren Ruf.


Die Schlacht von Azincourt
Die ganze Nacht vor der Schlacht hatte es ausdauernd geregnet. Zudem hatten die Franzosen das Schlachtfeld schlecht gewählt: ein relativ schmaler Streifen Land war beiseitig von Wald begrenzt und limitierte die Bewegungsfreiheit der französischen Ritter erheblich. Diese litten außerdem unter ihrem Standesdünkel: welche Gefahr konnte von den ungewaschenen und barfüßigen englischen Pikenieren und Bogenschützen schon ausgehen, die von Henry V. in England aus den sozial niederen Schichten rekrutiert waren? Sie hatten tausende der feinsten Ritter Frankreichs versammelt. Die Ungeduld und Arroganz derselben sollte mehr als 1200 von ihnen das Leben kosten. Nicht nur waren sie nicht bereit, eine Stunde länger zu warten, damit das Regenwasser im Acker versickern konnte. Sie waren außerdem auch nicht dazu zu bewegen, eine vernüftige Schlachtordnung einzuhalten und überritten sogar ihre eigenen Truppen. Es war nicht nur die Sucht nach Ruhm und Ehre, die sie dazu trieb, sondern auch die handfeste Aussicht auf Plünderung des königlichen Trosses und vielleicht sogar seine Gefangennahme. Man hätte ausgesorgt, wenn einem das gelänge.

Im Matsch des Ackers von Azincourt kamen die Pferde allerdings kaum voran. Die englischen Bogenschützen dagegen, hinter Deckungen von gespitzten Pfählen und in den Boden gerammter Piken geschützt, schossen Welle um Welle an Pfeilen ab - drei pro Minute, in hohem Bogen, so dass sie die ungeschützten Hinterteile der Pferde trafen, die ihre schwer gepanzerten Ritter abwarfen und wie hilflose stählerne Käfer im Dreck liegen ließen. Danach machte sich das englische "Gesindel" daran, den feinen französischen Adeligen mit Keulen und Steinen die gepanzerten Schädel einzuschlagen, Kehlen durchzuschneiden und die ringbewehrten Finger von den Händen zu schneiden, um Zeit zu sparen. Einem französischen Trupp allerdings gelang es inmitten des Schlachtens, bis zum englischen Tross durchzukommen und diesen ernsthaft zu bedrohen. Der König brauchte jeden Mann und befahl deswegen, die Ritter, die man bislang im Feldzug gefangen genommen hatte und gegen Lösegeld auszutauschen hoffte, zu exekutieren um die Bewacher ebenfalls in die Schlacht werfen zu können - ein unglaublicher Bruch mit dem ritterlichen Kodex.

Auf dem Schlachtfeld von Azincourt starb nicht nur die ritterliche Blüte Frankreichs, sondern auch ein Teil ihres Rufs. Bisher hatte dieser Schwertadel seine Legitimation gegenüber der Bevölkerung aus der Tatsache gezogen, dass er diese beschützte und dafür entsprechende Privilegien genoss. Doch offensichtlich war der Adel nicht in der Lage, das Volk zu beschützen. Wozu brauchte man ihn also? Es war diese Saat, auf der später das absolute Königtum von Versailles und sein zur Staffage reduzierter Adel gedeihen sollte.


Machtgebiete im Verlauf des Krieges (man beachte 1429)
Vorerst jedoch eroberte Henry V. beflügelt von seinem Erfolg die Normandy. 1417 fiel Caen, 1419 Rouen. Doch das war noch die geringste der Sorgen des französischen Königs Karl VI., der zu dieser Zeit immer öfter Opfer seiner Geisteskrankheit wurde und deswegen nicht regieren konnte. Der seit Jahren schwelende latente Bürgerkrieg zwischen den Häusern von Burgund und Orléans brach 1419 offen aus, als Johann der Furchtlose bei einer Verhandlung von Orléans ermordet wurde. Da Haus Orléans enge Bindungen zum Dauphin Karl (dem späteren VII.) hatte, lag es für Burgund nun nahe, das offizielle Bündnis mit England zu suchen. Mit einem Schlag verdoppelte sich der Machtbereich Englands in Frankreich. Als Körnung seines Feldzugs traf sich Henry V. im Jahre 1420 mit Karl VI. und handelte einen Friedensvertrag aus. Dieser Vertrag sah eine Heirat Henrys mit der Tochter Karl VI. Catherine vor; nach dem Tod Karl VI. würde der Thron dann auf Henry V. und dessen Erben übergehen. Karl VI. eigener Sohn, der Dauphin, wurde für illegitim erklärt. Dieser Vertrag von Troyes schien den Krieg mit einem eindeutigen Sieg Englands zu beenden.

Allein, Henry V. starb kurz nach Karl VI. überraschend 1422. Sein minderjähriger Sohn Henry VI. wurde zwar sofort zum König von Frankreich und England gekrönt, würde jedoch noch über ein Jahrzehnt nicht selbst regieren können. Zudem hatte Henry V. bereits 1421 eine schwere Niederlage gegen die mittlerweile in Frankreich gelandeten Schotten erlitten. Die Situation war also keineswegs so stabil, wie sie zuerst schien. 1429 allerdings belagerten die Engländer das letzte große Zentrum des französischen Widerstands, die Stadt Orléans. Würde sie fallen, bliebe Karl VII., dem mit Hilfe des Hauses Orléans vom Süden Frankreichs aus regierenden Gegenkönig, praktisch nichts mehr. Doch bevor wir uns den dramatischen Ereignissen zuwenden, sollten wir noch einmal zum Vertrag von Troyes zurückkommen.

Denn wie bereits Brétigny zuvor markiert auch Troyes eine Zäsur. Wie so oft zeigte sich die Bedeutung der geschlossenen Verträge jedoch nicht sofort, sondern erst im Lauf der nächsten Jahre. Wir Historiker, die wir über die Gnade der späten Geburt verfügen, sehen das natürlich heute deutlicher. Mit dem Vertrag von Troyes stellt Haus Plantagenet seinen Anspruch auf den französischen Thron auf einen gänzlich neuen Boden. Hatte man vorher mit der Verwandtschaft und Erbansprüchen argumentiert, so hatte man nun zwar offiziell sowohl vom französischen König als auch der Ständeversammlung die Nachfolge des ohenhin nur noch absehbare Zeit lebenden Karl VI. bestätigt und bis zu diesem Zeitpunkt die Regentschaft inne. Der Anspruch stützte sich nun jedoch nur noch auf ein schön beschriebenes Stück Papier, eben den Vertrag von Troyes, denn auch nichts anderem beruhte die Königskrönung Henry VI. Englands Anspruch auf den französischen Thron stand und fiel also mit seiner Fähigkeit, die Bestimmungen des Vertrags von Troyes durchzusetzen.



Jeanne d'Arc
Dafür schien die Lage auch ganz gut auszusehen. Karl VII. war akut gefährdet, denn seine wichtigsten Verbündeten wurden gerade von der englischen Armee belagert und standen kurz vor dem Fall, und Karl VII. war immer noch nicht offiziell zum König gekrönt, ein Akt, den man eben schlecht in einer belagerten Stadt oder einer Scheune auf dem Land vollziehen konnte. Frankreich befand sich in einem Staat der Auflösung. Der König hatte fast keine Macht mehr, der Adel sorgte sich nur noch um seine eigenen Pfründe und war nicht mehr in der Lage, sienen Pflichten nachzukommen. Nicht einmal von englischen internen Thronstreitigkeiten 1424 bis 1428 hatte man irgendwelchen Profit ziehen können. In dieser Situation tauchte 1429 eine Person auf, die bis heute noch mythischen Status genießt, umstritten bleibt und uns einen tieferen Blick wert sein muss: Johanna von Orléans, Jeanne d'Arc.

Jeanne d'Arc wurde um 1412 als Bauerntochter geboren und erhielt angeblich mit 12 Jahren ihre erste Vision von den Engeln, in der sie aufgefordert wurde, die Engländer zu vertreiben und den Dauphin in Reims krönen zu lassen. 1428 bat sie um eine offizielle Audienz. Es ist bis heute nicht vollständig geklärt wie es ihr gelang, diese zu erreichen. Die reine Bewegtheit über ihre Reinheit und ihre Visionen wird es kaum gewesen sein. Eine der vielen Theorien beinhaltet, dass es sich um eine illegitime Tochter des Dauphin gehandelt habe, was nicht vollständig von der Hand zu weisen ist. In jedem Falle gelangte sie auf die eine oder andere Weise vor Karl, von dem sie eine Armee forderte, um die Engländer aus Orléans zu vertreiben. Sie bekam sie, vermutlich (dies ist zumindest die Theorie des Historikers Stephen Richey), weil alle rationalen Möglichkeiten ausgeschöpft waren und niemand mehr eine Lösung wusste. Zu verlieren jedenfalls hatte man nicht mehr viel. In Orléans angekommen "bewies" Jeanne d'Arc ihre Vorsehungkraft damit, dass sie die Schlacht der Heringe und ihr Ergebnis exakt voraussagte. Jene Schlacht, die eigentlich nur ein unbedeutendes Scharmützel um einen Tross mit Heringsfässern war (daher auch der merkwürdige Name) und ohne ihre Prophezeiung wohl nie bekannt geworden wäre, verhalf ihr zu einem gewissen Rennomee, und obwohl die Adeligen in Orléans sie vom Kriegsrat ausschlossen und versuchten, sie zu behindern, konnte Jeanne d'Arc erfolgreiche Ausfälle anführen und die Engländer tatsächlich aus der Stadt vertreiben. In kurzer Folge erzielte sie danach eine weitere Reihe von Siegen, ehe Karl VII. im wiedereroberten Reims endgültig gekrönt werden konnte.

Jeanne d'Arcs Hinrichtung
Es ist nicht sicher, welche Rolle Jeanne d'Arc in diesen Schlachten innehatte. Sie selbst sagte in den Prozessen später aus, sie habe nur das Banner getragen - also nicht aktiv gekämpft - aber die Figur der schwertschwingenden, schwer gerüsteten Jungfrau ist das deutlich wirkmächtigere Bild. 1430 wurde sie bei nicht übermäßig bedeutenden Kämpfen bei Compiègne von den Burgundern gefangengenommen, die sie wohl entsprechend der Gepflogenheiten gegen Lösegeld freilassen wollten. Warum dieses nicht gezahlt wurde, gehört zu den großen Mysterien um Jeanne d'Arc. Burgund jedenfalls verkaufte sie an England, wo man ihr den Prozess machte. Die Jungfrau mit den göttlichen Visionen war ein mächtiges, aber zweischneidiges Propagandainstrument. Karl VII. hatte das erkannt, als er sie vor der offiziellen Armeeübergabe eingehend von Theologen prüfen ließ, denn wenn sie Erfolg hatte und sich hinterher herausstellte, dass sie eine Ketzerin war - ein Vorwurf, den man sich leicht wegen superbia, also Hochmuts (etwa durch die Behauptung, Visionen von Gott zu empfangen) einfangen konnte -, dann wäre das Königreich Karl VII. auf Ketzerei gebaut. Dies wäre eine wahre Katastrophe. England erkannte dieses Potential natürlich, und entsprechend war der Prozess denn auch. Der Jeanne d'Arc zustehende Verteidiger wurde ihr nicht gegeben, und obwohl sie den Fangfragen der Ankläger geschickt auswich, wurde sie schließlich verurteilt.

Zum Verhängnis wurde ihr dabei neben der Hochmut, die man ihr einfach trotzdem unterschob, vor allem dass sie Männerkleider getragen habe, was zum damaligen Zeitpunkt einem ziemlich schweren Vergehen gleichkam, besonders, da sie dies angeblich sogar noch im Gefängnis getan habe (aus dem sie unter anderem durch einen Sprung von einem über 20m hohen Turm zu entkommen versucht hatte). Jeanne d'Arc wurde im Alter von nur 19 Jahren öffentlich verbrannt. Ihr Ansehen allerdings etablierte sich nie als das einer Ketzerin. Bereits im Revisionsprozess von 1454 wurde das alte Urteil zunichte gemacht und sie zur Märtyrerin der Kirche erklärt. Noch heute nutzen französische Nationalisten und Frauenrechtler gern ihr Andenken für ihre Zwecke, auch wenn die Hochphase der Jeanne d'Arc-Propaganda im 19. und frühen 20. Jahrhundert lag.



Schlacht von Formigny
Der Krieg selbst sollte noch bis 1453 toben. Die große Zeit Englands aber war vorbei. Karl VII. organisierte sein sich wieder formierendes Königreich neu. An die Stelle von Feudaltruppen, die jeweils ihrem Ritter verpflichtet waren und deswegen trotz ihrer Größe kaum einsetzbar waren, was die Schlachten von Azincourt und Crécy schmerzlich gezeigt hatten, kam eine schlagkräftige Berufsarmee. Die Verwaltung wurde dem Feudaladel entrissen und eher an eine Art frühen Amtsadel übertragen, ein Prozess der Machtkonzentration beim König setzte ein. Der Grund der englischen Siege, die innere Zersplitterung Frankreichs, war damit beseitigt. 1435 fiel Burgund von England ab und damit auch der wichtigste Verbündete, der für die Erhaltung des Vertrags von Troyes notwendig war. Die Franzosen gingen in der Folgezeit kein Risiko ein und verweigerten den Engländern die Schlacht, während sie gleichzeitig Stadt um Stadt zurückeroberten. Diese Strategie führte bis 1450 zu durchschlagendem Erfolg bei der Schlacht von Formigny, in der die englische Nord-Armee entscheidend geschlagen und damit die Bretagne und Normandie wieder unter den Regierungsbereich Karl VII. fielen, und 1451 scheiterte die letzte englische Invasion von der Guyenne aus und führte zum Verlust des letzten dortigen Festlandsbesitzes.

Dies war auch möglich geworden, weil sich in der Bevölkerung ein fundamentaler Wandel abzuzeichnen begann. Der Krieg führte wenn nicht zur Herausbildung eines Nationalbewusstseins so doch zumindest zu einer deutlichen Abgrenzung: die Engländer betrachteten alle Franzosen mehr und mehr als Gegner, auch die an den Kämpfen nicht beteiligte Zivilbevölkerung, die mit einer ähnlichen Anitpathie gegenüber den mehr und mehr als Besatzern wahrgenommenen Engländern antwortete - wahrlich keine guten Bedingungen, um ein Land zu regieren. In der damals üblichen Kriegsführung, die sich aus dem Lande ernährte, war eine feindlich eingestellte Zivilbevölkerung ebenfalls von entscheidendem Nachteil. Englands fundamentaler Baustein zur endgültigen Anerkennung der Niederlage 1453 war aber, dass Frankreich seinen politischen Partikularismus überwand und eine einheitlichere, schlagkräftigere Struktur herausbildete, während England seinerseits mit inneren Problemen und Wirtschaftskrisen zu kämpfen hatte. In der ersten Hälfte des Krieges hatte es von der Spaltung Frankreichs profitiert. In der zweiten Hälfte jedoch drehte Karl VII. den Spieß um. England verblieb lediglich der Point du Calais bis ins 16. Jahrhundert, und es sollte nie wieder eine große Festlandsmacht werden. Sein Aufstieg zur europäischen Großmacht war gestoppt, sein Status auf den einer Mittelmacht zurückgestutzt. Es sollte bis ins späte 16. Jahrhundert dauern, ehe sich mit der Verschiebung des Fokus' auf die Neue Welt die maritime Macht Englands bemerkbar machen sollte. Doch das ist eine andere Geschichte.

Weiterführende Literatur:
Gerd Krumeich - Jeanne d'Arc
Joachim Ehlers - Der Hundertjährige Krieg
Anne Curry - The Hundred Years War
Kenneth Fowler - The Hundred Years War

Bildnachweis: 
Azincourt - Unknown (gemeinfrei)
Schlachtplan - Andrei Nacu (gemeinfrei)
Machtbereiche - Andrei Nacu (gemeinfrei)
Jeanne d'Arc - Unknown (gemeinfrei)
Hinrichtung - Hermann Stiltke (gemeinfrei)
Formigny - Unknown (gemeinfrei)

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