Montag, 17. März 2014

Dinge wachsen im Garten, nicht in der Historie

Von Stefan Sasse

Bequemer Sündenbock: Nikita Chruschtschow
In der Diskussion um die Krimkrise des Jahres 2014 konnte man das Argument vernehmen, die Grenzen entsprächen keiner "historisch gewachsenen" Situation und die Ukraine sei ein junges Land, das innerlich zerrissen sei. Auch von einem unnatürlichen Gebilde konnte man - ich paraphrasiere - lesen. Hintergrund ist dabei, dass die Krim 1954 in einem innerparteilichen Machtkampf an die damalige Sowjetrepublik Ukraine abgegeben wurde - obwohl dort ethnische Russen leben. Bei der Unabhängigkeit 1991 blieb die Krim dann beim neuen ukrainischen Staat. Putins Apologeten stützen sich nun auf zwei Argumente: einerseits sei die Ukraine ein Staat, dessen Grenzziehung willkürlich vonstatten ging (in diesem Fall Chruschtschows Zug 1954) und er gewissermaßen "historisch" keine Berechtigung habe und zum anderen lebten dort nicht mehrheitlich Ukrainer. Ich halte beide Argumente für Unsinn. 

Um die Diskussion vernünftig führen zu können müssen wir erst einmal klären, wann Grenzen überhaupt legitim sind. Viele Grenzen sind und wahren stets Gegenstand heftiger Streitereien, und Grenzrevisionen gehören nach wie vor zum Standardforderungskatalog in vielen Länder. War etwa die deutsche Staatsgrenze in Elsass-Lothringen 1871-1919 legitim? Ist die Grenze des heutigen Kosovo legitim? Aus Fällen der Vergangenheit wie der Gegenwart lassen sich einige Kriterien herausarbeiten, die offensichtlich die Legitimität einer Grenze schaffen. 

Bismarck und Napoleon III. bei Sédan
1) Das Völkerrecht. Gibt es irgendeine Art von völkerrechtlicher Festschreibung einer Grenze (etwa die 2+4-Verträge für die deutsche Oder-Neisse-Grenze oder den deutsch-französischen Friedensschluss von 1871), so gilt die Grenze im allgemeinen als legitim. 

2) Die Anerkennung. Erkennen wichtige Staaten (Großmächte und direkte Nachbarn) die Grenze an, so gilt sie als legitim. Die Grenze des Kosovo etwa wird von der NATO und mit ihr assoziierten Staaten anerkannt und garantiert, während die deutsche Nachkriegsgrenze von 1871 nie von Frankreich anerkannt wurde. Die späteren Entente-Mächte schlossen sich dieser Meinung später an, was den Boden für die Revision in Versailles bereitete (Deutschland erkannte die Grenze erst nach 1945 an). 

3) Die Zustimmung der Bevölkerung. Es ist im allgemeinen schwierig, gegen den expliziten Wunsch der Bevölkerung eine Grenze aufrechtzuerhalten. Möchte die Bevölkerung das Land überwiegend verlassen, sie es durch Unabhängigkeit, sei es durch Anschluss an einen Nachbarn, so steht die Legitimität der Grenze in Frage. Wir können dies etwa im Falle Montenegros oder des Sudans sehen. 

Verteidigungsministerium in Belgrad, 1999
4) Machtpolitische Realitäten. Haben wichtige Staaten (Großmächte und bedeutende Nachbarn) ein Interesse am aktuellen Grenzverlauf und garantieren ihn, so werden andere Faktoren selten eine Rolle spielen. Deutschlands Macht etwa garantierte, dass ohne Krieg keine Revision in Elsass-Lothringen zu erreichen war; die Menge an Feinden, die Serbien auf sich vereinigte, machte es dagegen unmöglich, an seinen in Frage gestellten Grenzverläufen festzuhalten. 

Zu diesen Fakten kommen einige legitimatorische Konstrukte. Dazu gehören sowohl irgendwelche ethnischen Betrachtungen (wie etwa auf der Krim oder 1938 im Sudetenland), geographische Gegebenheiten (der Wahn der "natürlichen Grenzen", der besonders im 19. Jahrhundert gepflegt wurde) als auch das Argument der Geschichte (von "gewachsenen" Grenzen). Ebenfalls beliebt ist der Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, was auf den ersten Blick identisch mit Punkt 3 zu sein scheint, dies aber nicht ist: Vorgebracht wird dieses Argument nämlich gerne von jenen, die überhaupt nicht dort leben, sei es die nazi-deutsche Regierung im Fall des Sudetenlandes oder jetzt Putin im Falle der Krim. 

Das war übrigens zu allen Zeiten so. Das Mittelalter etwa kannte ebenfalls hochkomplexe Konstrukte zur Legitimierung von Grenzen, ebenso die Neuzeit und die Antike. Fast immer spielten irgendwelche Schriftstücke eine Rolle (die Römer beriefen sich auf irgendwelche Verträge, im Mittelalter spielten die Lehensurkunden und Lehensverträge eine entscheidende Rolle und in der Neuzeit wurden diese um verschriftlichte Absprachen zwischen den Monarchen ergänzt) oder aber die Berufung auf die Tradition (alte Siedlungsräume und ehemalige Kolonien, die lange Dauer des Lehensvertrags, frühere Zugehörigkeit zu einem Vorfahren).

Gemein ist aber all diesen Konstrukten, dass es stets um Legitimation ging. Der reale Grenzverlauf wurde einzig und allein durch die Akzeptanz der Nachbarn bestimmt - wie in den vier Punkten beschrieben. Kein mittelalterlicher Fürst ließ sich von einem Verweis auf Tradition und gewachsene historische Grenzen von einem Anspruch auf ein Land abbringen, Friedrich der Große interessierte sich nicht für die lange Zugehörigkeit Schlesiens zur Habsburger Erbmasse, niemand kümmerte sich in den polnischen Teilungen um die Existenz des polnischen Großreichs.

Das Argument von der jungen Lebensdauer der Ukraine und der "unnatürlichen" Grenzziehung ist daher wenig tragfähig. Grenzziehungen sind immer willkürlich. Vollkommen absurd wird es, wenn einem Staat wie Frankreich die Legitimität seiner Grenzen zugesprochen wird, weil diese eben "historisch gewachsen" seien, der Ukraine aber nicht. Grenzen wachsen grundsätzlich nicht. Sie werden festgelegt, entweder in gegenseitiger Übereinkunft in einem Vertrag (selten) oder durch die Beilegung vorangegangener kriegerischer Aktivitäten (häufig). Die Grenzen des heutigen Frankreich entstanden in einem historischen Prozess von Ausbreitung und Konflikt, der jederzeit hätte unterbrochen werden können. Genauso ist es durchaus nicht realitätsfern anzunehmen, dass die Ukraine in hundert Jahren ein ungeheuer stabiles Gebilde wäre, mit eigener Identität ähnlich der heutigen französischen, das sich niemand mehr aus Europa wegdenken kann. Eine Grenze kann nur dann Gewohnheit werden, wenn man sie lässt. 

Bildnachweise: 
Verteidigungsministerium in Belgrad - David Orlovic, CC-BY-SA 3.0

3 Kommentare:

  1. Guter Artikel.
    Dennoch ist ein Hinweis angebracht: Das gilt für die Neuzeit. Im Mittelalter etwa kann man teilweise wirklich von historisch gewachsenen oder aber nicht genau definierten Grenzen reden, oder?

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    1. Sehr guter Einwand! Ich nehm das direkt in den Artikel auf.

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  2. Leider ein weiterer einseitiger Beitrag, der von der NATO und US-amerikanischen Sichtweise geprägt ist, sich wenig um Parallelen kümmert und Sachverhalte im Detail außer Acht lässt, die eine andere Sichtweise zuließen.
    1. Der Kosovo ist willkürlich und gegen das Veto Russlands und Chinas im UN-Sicherheitsrat auf Beschluss der NATO-Staaten (ohne Referendum im ursprünglichen Staatsgebilde Jugoslawien, sondern lediglich motiviert durch das Argument, man würde ethnischen Säuberungen vorbeugen und die zivile Bevölkerung schützen - es ging schließlich gegen ein Land, das den USA nicht wohlgesonnen war) aus dem Staatsgebilde und UNO-Mitglied Jugoslawien herausgerissen worden.
    Wenn Sie folglich feindseliges und kriegerisches Verhalten äußerer Mächte ("2) Die Anerkennung. Erkennen wichtige Staaten (Großmächte und direkte Nachbarn) die Grenze an, so gilt sie als legitim.") als legitim ansehen, dann ist auch der Anschluss (sic! denn auf der Krim gab es im Gegensatz zum Kosovo ein !freiwilliges! Referendum und meine Verwandten und Freude haben dies sehr begrüßt!) der Krim an Russland legitim, schließlich erkennen diesen die Länder Russland, Weißrussland (laut Ihrer Argumentation wichtige Nachbar), Kasachstan, Venezuela und weitere Staaten an. Somit legitim und rechtens.
    Eine neutralere, ausgewogenere und kritischere Analyse der Hintergründe und historischen Fakten wäre von Vorteil.

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