Samstag, 6. Juni 2020

Die Geschichte der EU, Teil 4


Dies ist eine Serie über die Geschichte der Europäischen Union, ihr politisches System und die Frage, wie demokratisch sie eigentlich ist. Teil 1 befindet sich hier. Teil 2 befindet sich hier. Teil 3 befindet sich hier

Ab Mitte der 1980er Jahre nahm die Reformdebatte innerhalb der EG wieder an Fahrt auf. Maßgeblich war einmal mehr Frankreich, dieses Mal in Form des Kommissionspräsidenten Jacques Delors. Er entwarf 1985 Vorschläge für eine tiefgreifende Reform der EG mit der expliziten Zielsetzung der Vollendung des Binnenmarkts. Dieser war seit 1957 das Fernziel der EWG gewesen, genauso wie die Überführung der Europäischen Gemeinschaften (Plural) in eine Europäische Gemeinschaft (Singular). Aber Delors ging noch weiter als nur den Binnenmarkt vervollständigen zu wollen. Der Prozess, den er in Gang setzte, sollte innerhalb nur eines Jahrzehnts nicht nur die Europäische Gemeinschaft schaffen, sondern sie auch gleich durch etwas viel Größeres ersetzen - eine Europäische Union.

Pacta sunt servanda

Der Ansatz, den Delors und bald auch die die Vorschläge mittragenden und ausbauenden Deutschen wählten, war ein Geflecht völkerrechtlicher Verträge, die die verschiedenen Zielsetzungen miteinander zusammenschnüren sollten. Dieses Vertragsbündel erhielt den Namen Einheitliche Europäische Akte (EEA) und wurde 1987 final verabschiedet (nachdem Dänemark ein Referendum darüber abgehalten hatte).

Die EEA erforderte einerseits das Erreichen des europäischen Binnenmarkts bis 1992. Hierzu mussten sämtliche bestehenden Hindernisse für den freien Verkehr von Waren abgebaut, Standards vereinheitlicht und viele andere Details harmonisiert werden. Es ist etwas, das die Kernkompetenz der EU darstellt und worin sie seither wieder und wieder brillierte: Aus einer zweistelligen Zahl hoch komplexer einzelstaatlicher Regulierungen ein insgesamt kohärentes Ganzes zu machen, das den Akteuren auf dem freien Markt maximale Rechtssicherheit bietet.

Die gemeinsamen Standards vergrößern den potenziellen Markt für einen Hersteller deutlich. Man sieht dies nirgendwo so gut wie am Beispiel des gescheiterten Freihandelsabkommens mit den USA: Eine große Hoffnung vieler Unternehmen beiderseits des Atlantiks war die Vereinheitlichung der Standards. So können etwa in Europa hergestellte Autos nicht in den USA verkauft werden, weil einige unbedeutende Spezifikationen nicht den dortigen Regularien genügen (und umgekehrt), was die Hersteller zu einer Produktion für den lokalen Markt zwingt. Das sind Friktionskosten, die jedes Unternehmen gerne vermeiden würde. Und das Vermeiden dieser Kosten ist bis heute einer der größten Anreize für den Beitritt zur EU, oder der Assoziierung mit ihr.

Aber die EEA schuf noch weit mehr als nur den gemeinsamen Markt, wenngleich der für viele Teilnehmer (man denke nur an Großbritannien und seine obsessive Konzentration auf den "common market") der ausschlagende Grund. Wesentlich folgenreicher sollte die Verpflichtung auf die so genannten Konvergenzkriterien sein. In der EEA wurden sie nur als Zielsetzung ausgegeben, aber bereits im Vertrag von Maastricht in Zahlen gegossen. Wir werden an dieser Stelle zu ihnen zurückkommen.

Die EG verstand sich aber einmal mehr - dies sollte sich mittlerweile klar als Leitmotiv herausgestellt haben - nicht nur als wirtschaftliche Verbindung. Die EEA gab ihr explizite neue Aufgabenfelder. So sollte die EU künftig eine eigene, europäische Forschungs-, Technologie-, Umwelt- und Sozialpolitik betreiben. In diesem Kontext ist auch der französische Vorstoß zur Ausweitung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) zu verstehen. Delors war klar, dass die Konvergenzkriterien nur dann sinnvoll implementierbar waren, wenn eine Angleichung des gesamten europäischen Wirtschaftsraums erfolgte. Auch in Deutschland wurde diese Einsicht damals noch geteilt, anders als in den 2000er und 2010er Jahren.

Die EEA sah vor, auch die gemeinsame Außenpolitik zu vereinheitlichen - ein Problem, mit dem die EU bis heute kämpft. Gleichzeitig zeigte sich die EG unfähig, den in Jugoslawien 1991 ausbrechenden Bürgerkrieg einzuhegen oder eine konstruktive Rolle zu spielen - mit großen destabilisierenden Folgen für die Region. Auch dem Zusammenbruch des Ostblocks stand die EG weitgehend ohne gemeinsame Position gegenüber.

Zuletzt machte sich die EG in der EEA an eine Reform ihrer eigenen Institutionen. So wurden etwa die Rechte des Parlaments einmal mehr gestärkt, das Abstimmungsverfahren im Rat wurde geändert und vieles mehr. Diese Reformen sollten sich als essenziell erweisen, als der Zusammenbruch des Ostblocks ab 1990 neue Beitrittsperspektiven eröffnete und das Einstimmigkeitsprinzip sich endgültig nicht mehr aufrechterhalten ließ.

Maastricht

Quasi direkt im Anschluss an die EEA begannen die Arbeiten daran, ihre Zielsetzungen umzusetzen. Konkret mussten Regelungen für die Konvergenzkriterien gefunden, die politische Zusammenarbeit verbessert und endlich eine Union gegründet werden - Ziele, die die EEA direkt und verbindlich vorgegeben hatte. Aus außenpolitischen Gründen, auf die im nächsten Abschnitt noch genauer eingegangen werden wird, hatten alle Beteiligten ein äußerstes Interesse daran, diese Ziele so schnell wie möglich zu erreichen. Uns soll an dieser Stelle interessieren, welche Ergebnisse die Verhandlungen brachten.

Gleich der erste Artikel des Vertrags von Maastricht zeigt, was die Kernbedeutung des Vertragswerks war: Die Gründung der Europäischen Union. Diese wurde als eine Art Dachgesellschaft den bisherigen Europäischen Gemeinschaften übergestülpt und war keine eigene Rechtsperson. Weiterhin lagen alle Rechte bei den einzelnen Gemeinschaften; der EWG, EGKS, EURATOM und so weiter. In einer Entwicklung, die den geneigten LeserInnen mittlerweile sicherlich bekannt vorkommt, enthielt der Vertrag von Maastricht einen Handlungsauftrag an zukünftige Verhandlungen: Die Union durch einen Verfassungsvertrag endgültig als supranationalen Staatenbund zu etablieren. Gleichzeitig wurde eine Reihe bereits damals offensichtlich notwendiger institutioneller Reformen auf spätere Verhandlungsrunden verschoben.

Aber: Die Union existierte. Und sie existierte als weit mehr als nur ein Wirtschaftsbündnis. Es tut mir Leid, dass ich auf diesem Punkt so sehr herumreite, aber da Kritiker von links wie rechts diesen Punkt so oft bemühen, scheint es wichtig zu sein, darauf hinzuweisen. Der Vertrag von Maastricht formulierte erstmals die Institutionalisierung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP, nicht zu verwechseln mit der Gemeinsamen Agrarpolitik GAP). Bis heute ist der Versuch Brüssels, eine Antwort auf Kissingers berühmte Frage "Welche Telefonnummer hat Europa?" zu geben, ein Stiefkind der Union geblieben. Zwar gibt es mittlerweile sogar so etwas wie ein europäisches Außenministerium. Einen Anruf Kissingers sollte man dort allerdings trotzdem nicht erwarten.

Wesentlich substanzieller ist die dritte Säule Maastrichts (neben der EG und der politischen Zusammenarbeit): die Zusammenarbeit auf Ebene der Polizei und Sicherheitsbehörden. Dem einen oder anderen Temposünder dürfte bereits unangenehm aufgefallen sein, dass ein Knöllchen aus Frankreich auch in Deutschland vollstreckt wird. Generell ist die EU zwar noch kein einheitlicher Rechtsraum. Ein einheitlicher Vollstreckungsraum dagegen ist sie sehr wohl - zumindest noch. Denn dass das Bundesverfassungsgericht aktuell eine Auslieferung nach Ungarn unter allen Umständen genehmigen würde, darf als eher zweifelhaft gelten.

Man sollte das aber nicht  zu negativ auffassen. Die Unionsgründung schuf auch die Unionsstaatsbürgerschaft, die mithin segensreichste Einrichtung der EU überhaupt, mit all den damit einhergehenden Rechten. Das europäische Parlament bekam einmal mehr eine Statuserhöhung und wurde offiziell mit dem Ministerrat gleichgestellt, wenngleich es nach wie vor erschreckend wenig Kompetenzen besaß. Und zuletzt wurde mit dem Protokoll zur Sozialpolitik, das 1997 sogar von der neuen Labour-Regierung Tony Blairs ratifiziert wurde, der Weg zu einer Vereinheitlichung von arbeitsrechtlichen Normen und Schutzmaßnahmen gelegt, die wenigstens die krassesten Ungerechtigkeiten innerhalb der Union ausgleichen können - angesichts der zu erwartenden Erweiterungswelle keineswegs zu früh. Zuletzt erhielt die Union die Kompetenz, eigenständige Kulturförderung zu betreiben.

Am berühmt-berüchtigsten aber ist Maastricht wegen der vertraglichen Festlegung der Konvergenzkritieren. Der Vertrag von Maastricht gründete offiziell die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU). In drei Schritten sollten die Mitgliedstaaten eine gemeinsame Währung, den Euro, einführen (spätestens 1999 als Buchgeld, was dann auch geschah). Die Teilnahme an dieser Währung war an die Erfüllung der Konvergenzkriterien geknüpft, woraufhin (außer für Dänemark und Großbritannien) der Euro-Eintritt zwingend erfolgen MUSSTE. Nach dem Beitritt zur WWU mussten "nur" noch die zwei permanenten Konvergenzkriterien erfüllt werden, die seither für so viel politische Konflikte sorgten: einerseits eine maximale jährliche Neuverschuldungsquote von 3% und andererseits eine maximale Gesamtschuldenquote von 60%. Es ist sicherlich nicht zu viel gesagt, dass diese Kriterien von sämtlichen Mitgliedstaaten eher als "grobe Richtlinien" im Sinne Kapitän Barbossas ausgelegt wurden.

Mit dem Vertrag von Maastricht schuf die EU (zur Abwechslung) einen neuen Präzedenzfall. Zum ersten Mal galten innerhalb der Union Verträge nicht für alle Mitgliedsländer gleichermaßen. Es entstand ein "Europa der zwei Geschwindigkeiten", das zwar seither nicht mehr in diesem Umfang benutzt wurde, aber seither in keiner EU-Reformdebatte fehlen darf. Diese Möglichkeit wurde in Maastricht auch explizit festgeschrieben.

Abgesehen von weiteren Volksentscheiden (einmal mehr in Dänemark) erwies sich ausgerechnet das Bundesverfassungsgericht als Hürde für die Annahme des Vertrags. In einem Grundsatzurteil, das als "Ja, aber"-Urteil bekannt wurde, erklärte das BVerfG die grundsätzliche Vereinbarkeit der europäischen Integration mit dem Grundgesetz - vorausgesetzt, die Demokratisierung der Union halte mit weiteren Integrationsschritten schritt, und vorausgesetzt, die Souveränität des Volkes bliebe ultimativ erhalten. Damit behielt sich das BVerfG eine Veto-Rolle für jeden folgenden Integrationsschritt vor - mit weitreichenden Folgen.

Die Öffnung des Ostens

Vermutlich wären die vielen Integrationsschritte dieser Zeit nicht ohne die außenpolitischen Umstände denkbar gewesen, die einen gewaltigen Handlungsdruck aufbauten. Der Fall des Eisernen Vorhangs 1989 und die sich anbahnende Wiedervereinigung zwangen die Akteure zu einem ersten Umdenken bezüglich der Rolle Deutschlands innerhalb der EG; der folgende Fall des Ostblocks machte eine komplette Neuorientierung der Frage, was eigentlich "Europa" war, erforderlich. Bislang hatte für die EU das Adenauer'sche Diktum gegolten, nach dem hinter der Elbe Asien anfing. Nun fing Asien frühestens hinter dem Donezbecken an, und wenn man die entsprechenden Signale aus der neuen russischen Republik betrachtete, schien es sogar so, als ob die geographische Grenze des Urals auch die künftige Grenze Europas sein könnte.

Unmittelbar erlaubte der Zerfall der Sowjetunion und damit der Nachkriegsordnung die Bereinigung einiger historischer Anomalien. Finnland, Schweden und Österreich, die aufgrund verschiedener Nachkriegsabkommen bisher der EG nicht hatten beitreten können, wurden 1995 Vollmitglieder der Europäischen Union. Norwegen optierte in einem zweiten Referendum erneut dafür, nicht beizutreten. Wie aber im Fall der Schweiz war das Land durch diverse Abkommen ohnehin bereits stark in die EU-Strukturen eingebunden.

Zudem erlaubte der Fortgang des Einigungsprozesses, dass die fünf neuen Bundesländer umstandslos in die EG integriert wurden. Genauso wie bei ihrer Integration ins NATO-Bündnis gab es auch wenig andere sinnvolle Optionen. Deutschland war damit allerdings nun der mit Abstand größte Mitgliedsstaat der EG. Statt wie vorher ungefähr auf derselben Bevölkerungszahl wie Frankreich, Großbritannien und Italien zu stehen (zwischen 60 und 70 Millionen Einwohner) besaß es nun ein gutes Fünftel mehr - rund 82 Millionen.

Dies allerdings brachte die alte Machtfrage zwischen Frankreich und Großbritannien einerseits und Deutschland andererseits wieder aufs Tablett und weckte in den Siegerstaaten alte Ängste. Würde das wiedervereinigte Deutschland danach streben, die Vision von Mitteleuropa wieder zu beleben und sich als eigenständiger Machtfaktor zwischen Ost und West zu etablieren, wie es das bereits in Weimar unternommen hatte? Gleichzeitig war es offensichtlich nicht dauerhaft möglich, Deutschlands gewachsenes Gewicht zu ignorieren.

Diese Befürchtungen führten dazu, dass Frankreich und Großbritannien in den 2+4-Verhandlungen darauf beharrten, dass Deutschland seine Integration in die EG ungebremst fortsetze, ja sogar beschleunige. Die Wirtschafts- und Währungsunion und vor allem die schnelle Zustimmung Deutschlands entsprangen maßgeblich diesen politischen Überlegungen. Die deutsche Ökonomenzunft war, wenig überraschend, kein großer Freund der WWU und schreib seinerzeit einen offenen Brief mit düsteren Warnungen.

Kohl war jedoch verständiger Politiker genug um zu erkennen, dass wirtschaftliche Argumente gegenüber den politischen in dieser Situation klar die zweite Geige spielten. Die Wiedervereinigung hatte nur ein kurzes Zeitfenster, und dieses musste genutzt werden. Wenn der Preis dafür der Souveränitätsverlust über die Währung war, so sei es. Man sollte Kohls Verhandlungsgeschick hier ohnehin nicht kleinreden; die WWU war eine sehr deutsche Struktur. Letztlich wurde der Aufbau der Bundesbank den europäischen Partnern übergestülpt, für die er, wie sich mittlerweile erschöpfend gezeigt hat, nur eingeschränkt geeignet war. Aber die Zwänge des Augenblicks und die Notwendigkeit zum Kompromiss ließen kaum eine andere Wahl.

Erweiterung oder Abschottung?

Die größte Herausforderung für die EU lag ohnehin in Osteuropa. Polen, die neuerdings wieder unabhängigen Baltenstaaten, Tschechien und die Slowakei, Ungarn, Slowenien, Rumänien und Bulgarien - sie alle waren nun mehr oder weniger stabile Demokratien geworden, hatten eine Wirtschaft, gegenüber der die der DDR geradezu paradiesisch wirkte und blickten entschieden nach Westen. Weißrussland und die Ukraine standen als künftige Aspiranten ebenso vor der Tür wie Georgien, und Russland unter Jelzin orientierte sich ebenfalls deutlich in Richtung Washingtoner Konsens. Gleichzeitig wurde Jugoslawien von einem stetig eskalierenden Bürgerkrieg zerrissen und hunderttausende von Flüchtlingen strömten in die EG-Länder, vor allem nach Deutschland. Die Lage war, um es milde auszudrücken, volatil.

Die neuen Demokratien Osteuropas hatten eine klare Präferenz, wie sie sich ihre künftige Rolle vorstellten: Sie wollten Mitglieder sowohl der EU als auch der NATO werden. Gegen beide Bestrebungen gab es heftige Widerstände. Schnell überwanden waren die gegen die NATO-Mitgliedschaft. Bis 1997 war in einem Vertrag mit Russland die Grundlage dafür gelegt worden, dass die osteuropäischen Staaten NATO-Mitglieder werden können (ein Fakt, das Russland heute genauso gerne vergisst wie die deutsche Linke). Derselbe Vertrag regelte zudem dauerhafte Rüstungskontrollen und Konsultationen, deren Ende wir gerade unter den wechselseitigen Attacken Trumps und Putins begutachten dürfen. Durch diese Entwicklungen wurde die Westeuropäische Union endgültig zur Makulatur.

Die Mitgliedschaft in der EU dagegen war wesentlich umstrittener. Bis Mitte der 1990er Jahre hatten die relevanten Nachbarstaaten Assoziierungsabkommen mit der EU abgeschlossen. Viele EU-Mitgliedsstaaten waren allerdings bestenfalls lauwarme Unterstützer einer solchen Erweiterung. Der Grund dafür lag gerade in dem Erfolg der vorherigen Reformbestrebungen. Die Vollendung des europäischen Binnenmarkts erlaubte zwar eine freie Bewegung von Waren, was generell der Exportwirtschaft der EU zugute kommen würde, die erwarten konnte, eher wenig Waren aus osteuropäischer Fertigung zu importieren.

Die gleichzeitige Freizügigkeit von Arbeit und Kapital aber bedrohte die Volkswirtschaften und politische Stabilität auch der alten EU. Es stand schließlich zu erwarten, dass billige osteuropäische Konkurrenz in diese Länder abwandern und dort vor allem das Handwerk und den gerinqualifizierten Dienstleistungssektor unter starken Druck setzen würde. Gleichzeitig war anzunehmen, dass viele Firmen Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe in die Niedriglohnländer Osteuropas verlagern würden, wenn durch die Integration dieser Länder in den gemeinsamen Wirtschaftsraum alle Barrieren fielen.

Letztlich gaben aber auch hier politische und nicht wirtschaftliche Überlegungen den Ausschlag. Nicht nur war in den 1990er Jahren die neoliberale Ära in vollem Schwung und propagierte die völlige Entfesslung des Konkurrenzdrucks der Märkte, so dass das politische Klima sich ohnehin rapide freundlicher gegenüber diesen Problemen entwickelte. Wesentlich schwerwiegender war das Argument der Stabilisierung und Absicherung Osteuropas.

Ähnlich wie bei der Südeuropa-Erweiterung der 1980er Jahre bestand die Befürchtung, dass die Demokratien Osteuropas sich alleine nicht als stabil erweisen würden. Die Probleme der Wiedervereinigung alleine hatten ausreichend gezeigt, in welchem Zustand 40 Jahre kommunistischer Diktatur die Volkswirtschaften gelassen hatten, und die DDR war ja noch das Aushängeschild des Ostblocks gewesen waren. Erneut galt es also, eine größere Bewegung ökonomischer Migration zu verhindern.

Mindestens ebenso wichtig aber war, ein Zurückrutschen dieser Länder in diktatorische Regierungen zu verhindern. Wie die weitere Entwicklung der Ukraine und Weißrusslands ausreichend belegen sollte, waren Diktatur und oligarchische Ausplünderung keineswegs wirre Fieberträume. Einen ganzen Gürtel von failed states an Europas Ostflanke wollte aber niemand. So wurde gegen Ende der 1990er Jahre mit Nachdruck auf die Aufnahme Osteuropas in die EU hingearbeitet. Dabei wurden auch die Konvergenzkriterien einer ersten Belastungsprobe unterzogen, unter anderem, weil Deutschland sich in jenen Jahren zum ökonomischen Problemkind der EU zu entwickeln begann.

Weiter geht's im fünften Teil.

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