Dies ist eine Serie über die Geschichte der Europäischen Union, ihr politisches System und die Frage, wie demokratisch sie eigentlich ist. Teil 1 befindet sich hier. Teil 2 befindet sich hier. Teil 3 befindet sich hier. Teil 4 befindet sich hier.
Mit nunmehr 25 Mitgliedsstaaten war die Vorstellung, weiterhin nach dem alten Konsensprinzip operieren zu können, völlig illusorisch geworden. Auch die Regelung, dass jedes Land in der Kommission zwei Kommissare stellte, war angesichts eines Exekutivorgans mit 50 Beauftragten wahnwitzig. Auch war dem gestiegenen Gewicht Deutschlands seit der Wiedervereinigung nicht Rechnung getragen worden. Die Politische Einheit blieb weiterhin frommer Wunsch, vor allem auf dem Gebiet einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Entsprechend fanden sich die EU-Staaten neben der parallelen Herausforderung der Osterweiterung auch in einer weiteren Runde von Reformgesprächen.
Vive la France, zweiter Anlauf
Diese kulminierten im Jahr 2000 in dem Vertrag von Nizza. Praktisch von seiner Unterzeichnung an galt das Vertragswerk als Fehlschluss, war ungeliebtes Kind und machte eine sofortige weitere Verhandlungsrunde erforderlich. Zwar schaffte Nizza es, das Einstimmigkeitsprinzip mit wenigen Ausnahmen (vor allem Außenpolitik) zu beseitigen. Aber die gewählten Gewichtungen waren willkürlich und stellten niemand zufrieden, weswegen das Prinzip der doppelten Mehrheit ersonnen und in den Verfassungsvertrag übernommen wurde.Die Europäische Verfassung war der logische Endpunkt der Entwicklung. Die Europäischen Gemeinschaften (Plural) und die anderen Säulen der EU waren immer noch formal souverän gegenüber der "Dachgesellschaft" der Europäischen Union. Diese musste eine eigene juristische Person werden, was dann auch gleichzeitig die zersplitterten Gemeinschaften darunter ablösen würde. Da die Union eine Staatsbürgerschaft, einen Haushalt und ein Parlament besaß und den Anspruch formuliert hatte, eine "immer engere Union" (ever closer union) zu werden, war ein Verfassungsvertrag nur logisch.
Dieser Vertrag wurde 2005 von den Mitgliedsstaaten ausgehandelt. In vielen Staaten wurde er auch ratifiziert, doch für die betroffenen Regierungen überraschend heizte sich in Frankreich und den Niederlanden, wo zu seiner Annahme (anders als etwa in Deutschland) eine Volksabstimmung notwendig war, eine stark polarisierte Grundstimmung an. In einer Vorwegnahme zum Brexit-Votum von 2016 hatte der überparteiliche Konsens zur Annahme des Vertrags eine bestenfalls lauwarme Werbekampagne für die Verfassung gestartet, während eine hochmotivierte Querfront aus Gegnern das Werk knapp zu Fall bringen konnte.
Für das europäische Projekt war die Ablehnung des Verfassungsvertrags ein schwerer Schlag. Die Hoffnung, die europäische Integration auf eine neue Stufe heben zu können, hatte sich vorerst zerschlagen. Gleichzeitig waren die institutionellen Reformen dringender denn je, denn die strukturelle Unmöglichkeit der Entscheidungsfindung und das weitere parallele Bestehen verschiedener Institutionen machten die Reformen des Verfassungsvertrags unerlässlich. Wir werden die konkreten Ergebnisse Lissabons später begutachten, wenn wir das politische System der EU unter die Lupe nehmen, denn der Vertrag definiert das aktuelle institutionelle Zwischenspiel.
Deswegen griffen die Regierungen zu dem Mittel, einen "normalen" Vertrag abzuschließen, der die relevanten Punkte enthielt. Dieser wurde in Lissabon geschlossen und 2009 von allen Mitgliedsstaaten ratifiziert - ohne Volksabstimmungen. Dieser Weg war zwar formal korrekt und nicht zu beanstanden, aber der Eindruck, dass das Votum der Wahlbevölkerung keine Rolle spielte und gegebenenfalls einfach erneut abgestimmt wurde (wie dies in Irland geschehen sollte) oder aber durch Manöver wie den Lissaboner Vertrag die Zustimmung ganz umgangen wurde, trugen nicht eben zur Vertrauensbildung in der EU bei. Zudem besitzt die EU damit bis heute keine Verfassung.
Die Finanzkrise
Doch solche vergleichsweise luftigen Probleme traten zur Zeit der Ratifizierung des Lissabonner Vertrags bereits in den Hintergrund. 2007 begann die Subprime-Krise in den USA, die mit der Pleite des Branchenriesen Lehman Brothers, der sich die Bush-Regierung in einem Versuch, sich der "too big to fail"-Logik zu entziehen, nicht entgegenstellte, im Jahr 2008 ihre entscheidende Wegmarke erreichte. Ohne die Möglichkeit, geldpolitisch auf die Krise zu reagieren, mussten die Eurostaaten den Auswirkungen zwangsläufig fiskalpolitisch entgegentreten - was nur durch eine steigende Staatsverschuldung und damit eine de-facto Aussetzung der Maastricht-Regeln erreicht werden konnte.Die Finanzkrise traf die europäischen Staaten auf unterschiedliche Art. Manche waren primär betroffen. Das waren etwa Spanien, Italien, Irland und Griechenland, wo analog zur amerikanischen Krise die Kreditvergabe die Leistungsfähigkeit der Realindustrie überschritten hatte. Andere Staaten wie Deutschland waren sekundär betroffen, weil es ihre Banken waren, die diese gewaltige Expansion ermöglicht hatten. Der Zusammenbruch der bald pejorativ PIIGS-Staaten genannten Gruppe musste daher zu einer Bankenkrise in Deutschland und anderen EU-Ländern führen. Die anderen Staaten waren tertiär betroffen, weil der Zusammenbruch des Interbankenmarkts und die scharf gestiegene Schwierigkeit, an Refinanzierungskredite zu kommen, ihre Wirtschaft belasteten. In allen Fällen war ohne massive und schnelle Staatshilfen nichts zu machen.
Von Beginn an war dabei unter den Staaten Konsens, dass man selbst schuldlos sei und die Krise ein externales Ereignis aus den USA war, auf das man einer Naturkatastrophe gleich reagieren müsse. Die Große Koalition in Deutschland verfocht dieses Mantra besonders aggressiv und zwang auch andere, eher skeptische EU-Staaten auf Linie. Das bedeutete, dass die Staaten jeweils national auf die Problematik reagierten (in Deutschland etwa durch ein gewaltiges Konjunkturprogramm und eine Garantie aller privaten Einlagen) - und damit ihre Defizite in die Höhe fuhren. Die EZB fuhr quasi ein "business as usual".
Die dahinterliegende Theorie war, dass die Krise nicht an strukturellen Problemen in den EU-Volkswirtschaften und vor allem der Euro-Konstruktion hing, sondern an Ungleichgewichten innerhalb der einzelnen Länder. Entsprechend müsste die Krise diese Ungleichgewichte abbauen, da eine europäische Krisenpolitik diese stattdessen erhalten würde. Die USA unter ihrem neu gewählten Präsidenten Obama verfochten einen anderen Ansatz, indem sie mit Geldpolitik das System stabilisierten (wenngleich der Stimulus 2009 wesentlich zu klein war). Die befürchtete Inflation blieb aus, und die Wirtschaft wuchs seit 2010 mit beeindruckender Kohärenz jedes Jahr wieder und erreichte gegen Ende von Obamas Regierungszeit das Vorkrisenniveau - ein Status, von dem ein Großteil der Eurozone weit entfernt ist.
Doch diese Differenzen wären vielleicht philosophischer Natur geblieben, wenn die Finanzkrise wie in den USA vor allem die öffentlichen Haushalte aufgebläht, realwirtschaftliche Schäden angerichtet und dann ein Problem der Vergangenheit geblieben wäre, so dass man sich auf die Erholung hätte konzentrieren und die Schulden mit dem folgenden Wirtschaftswachstum langsam wieder bezahlen können. Für Deutschland funktionierte dieses Modell ausnehmend gut, was sicherlich zu der langen Regierungszeit Angela Merkels beigetragen hat. In den meisten anderen Euro-Ländern dagegen war die Politik ein Desaster. Denn nicht nur hatten sie mit den Folgen der Finanzkrise zu kämpfen - sie mussten sich einer ausgewachsenen Währungskrise stellen.
Die Eurokrise
An dieser Stelle kann, so viel sei gleich vorweg gesagt, keine detaillierte Aufarbeitung der Eurokrise erfolgen. Wer sich für die Geschichte der Finanz- und Eurokrise im Detail interessiert, sei mit wärmster Empfehlung an Adam Tooze verwiesen, dessen Buch "Crashed" (deutsch) die absolute Autorität auf diesem Gebiet darstellt. Daher hier in Kürze.Die Eurokrise begann praktisch im Anschluss an das Erreichen Europas der Schockwellen der Finanzkrise im Jahr 2009. Ihr Brennpunkt war Griechenland, was auf den ersten Blick überraschen mag. Das Land macht kaum 3% der Wirtschaftsleistung der gesamten EU aus; Deutschland alleine hätte die griechischen Schulden übernehmen und dabei nicht die Kosten seines eigenen Konjunkturpakets erreichen können. Von Anfang an war daher die Eurokrise mindestens ebenso eine politische wie wirtschaftliche Krise.
Die Überlegung der deutschen Politik war dabei insgesamt recht simpel. Konsistent mit der Reaktion auf die Finanzkrise wollte man vermeiden, die Schulden der Einzelstaaten in irgendeiner Form zu vergemeinschaften. Obwohl man also eine Währung teilte, sollte die fiskalpolitische Reaktion (nicht aber die geldpolitische!) in jedem Mitgliedsstaat individuell sein. Nach Lage der Dinge bedeutete dies Austerität, weil alle anderen Reaktionsmöglichkeiten durch diese Prämissen verbaut waren. Staaten, die nicht willens oder in der Lage waren, diesen Weg zu gehen, sollten aus dem Euro ausscheiden.
Im Prinzip war dies dieselbe Politik, die lange den Goldstandard unterfüttert hatte (worüber ich hier ausführlich geschrieben habe). Die dahinterstehende Sorge war nicht, dass die griechische Volkswirtschaft nicht gerettet werden könnte, sondern dass ein moral hazard entstehen würde: Athen spielte nicht trotz, sondern wegen seiner geringen Größe keine Rolle in den Überlegungen der großen EU-Staaten. Die Augen in Berlin waren auf Rom und Madrid, nicht auf die Akropolis, gerichtet. Würde man nämlich einen Bailout für Griechenland beschließen, so gäbe es keine Anreize für Italiens und Spaniens (und Irlands) ungleich größer Volkswirtschaften, durch Austerität selbst aus der Krise zu kommen. Das war die fundamentale politische Logik der Krise, die von Deutschland und den mit ihm verbündeten Staaten der Eurozone aufgezwungen wurde.
Es lohnt sich, kurz bei den Bündnissen zu verweilen, die hier zur Anwendung kamen. Durch die gesamte Eurokrise bis heute hat die deutsche Position ihre überzeugtesten Verteidiger in den Niederlanden und in Finnland. Die schärfsten Kritiker sind, wenig überraschend, in Griechenland, Italien, Spanien und Portugal zu finden. Länder wie Frankreich nehmen eine Mittlerposition ein. Frankreich hat auch kein großes Interesse daran, die italienischen Schulden zu garantieren, ist aber gleichzeitig wenig begeistert von der deutsch-dominierten geldpolitischen Haltung der EZB und der Position Berlins. Entsprechend agiert es mal als unwilliger Verbündeter, mal als verhaltener Kritiker, ohne sich je entschlossen auf eine der beiden Seiten zu stellen. Diese Dynamik hat sich innerhalb der EU bis heute wenig geändert.
In den Jahren 2010, in dem die Eurokrise quasi offiziell begann (und in der die Bedürfnisse der deutschen Innenpolitik, die die schwarz-gelbe Haltung angesichts der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen und der beginnenden Anti-Griechenland-Kampagne der BILD zu einer wesentlich kompromissloseren Haltung zwangen als vielleicht sachlich geboten), bis etwa 2012 setzte sich die deutsche Haltung überwiegend durch. Eine Art großer Koalition folgte in Griechenland (mehr schlecht als recht) den Bedürfnissen der Austeritätspolitik; ähnliche Kurse wurden in Spanien und Portugal sowie Irland gefahren. In Italien führte die Krise zum Sturz der dortigen Regierung und der von der EU äußerst positiv begleiteten Einsetzung einer Technokratenregierung.
Letztere kann durchaus als Fanal betrachtet werden. EU-kritische Kräfte betrachteten sie als eine Art Putsch, eine koloniale Übernahme durch die EU. Die Monti-Regierung war schnell unbeliebt (wenig verwunderlich, handelte es sich doch um politische Amateure mit einem extrem unpopulären Programm) und erlaubte es den Italienern, sämtliche schlechten Gefühle rund um die Eurokrise auf die EU abzuladen, die ihnen scheinbar von außen die Austerität aufoktroyiert hatte. Dieses Gefühl der Fremdbestimmung wurde in allen südeuropäischen Ländern beherrschend und führte dort zum Aufschwung populistischer Bewegungen von rechts wie links.
Diese Politik war allerdings ihrem Wesen nach tatsächlich unnatürlich. Die PolitikerInnen der jeweiligen Länder wollten sie eigentlich nicht implementieren und konnten sich nur mit der Alternativlosigkeit (Merkels Worte) dieser Maßnahmen rechtfertigen, was gegen die populistische Widerstandsbewegung ungefähr niemanden überzeugte. Ohne jede Mehrheit in den Ländern, denen sie große Opfer abverlangte, und ohne greifbare unmittelbare Erfolge entwickelte sie eine ähnliche Dynamik wie die Agenda2010 in Deutschland: Möglicherweise führte sie mittelfristig zu einer strukturellen Gesundung, aber mittelfristig, um das Keynes-Wort etwas abzuändern, sind wir alle arbeitslos und sozial abgestiegen. Die Hoffnung, in zehn oder fünfzehn Jahren denselben Wohlstand wie vor der Krise wieder erreicht zu haben, ist nichts, womit man irgendwen begeistert.
Dass die Eurokrise zudem nicht auch nur im Ansatz gelöst wurde, sondern vielmehr schlimmer wurde und immer neue Runden von Rettungspaketen nötig machte, die wegen der ohnehin knappen Kredite im Fahrwasser der Finanzkrise ohne Garantien von außen kaum zu stemmen waren, ließ diese Politik um 2012 vor einer unangenehmen Wahl stehen. Entweder man ging sie bis zu ihrem logischen Ende, was den "Grexit" aus dem Euro bedeuten würde. Für diese Möglichkeit trat vor allem der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble mit Verve ein. Oder aber die EU schuf eine Vergemeinschaftung, in welcher Form auch immer.
Wer jetzt denkt "da kann ja nur ein Kompromiss rauskommen, der keine Seite befriedigt" hat die Natur der EU verstanden. Der Mechanismus, auf den man dabei verfiel, war der so genannte "Europäische Stabilitätsmechanismus" (ESM). Abgesichert durch die strenge Kontrolle der "Troika", einer aus Vertretern der Europäischen Kommission, EZB und dem Internationalen Währungsfond (IWF) zusammengesetzten eigenen Institution, wurde den betroffenen Staaten Zugang zu Krediten mit vergleichsweise niedrigen Zinsen gewährt, gleichzeitig aber harsche Auflagen gemacht. Diese Auflagen zwangen die Empfängerländer zu tiefschneidenden Austeritätsmaßnahmen, was bezeichnenderweise ausgerechnet der IWF, der in den Jahrzehnten des "Washington Consensus" eigentlich immer die erste Quelle solcher Maßnahmen war, mit Verweis auf die wirtschaftliche Untragbarkeit ablehnte. Hier setzten sich die Deutschen aber durch, die schon die Kröte der Existenz des ESM schlucken mussten.
Aufstieg der Ränder
Das Resultat war eine Stärkung der populistischen Ränder in allen betroffenen Ländern. In Italien formierte sich das "5-Sterne"-Bündnis unter dem ideologisch recht flexiblen, tendenziell aber rechts zu verordnenden Comedian Beppo Grillo. In Spanien wurde Podemos groß, in Portugal kam seither die Sozialistische Partei (PS) an die Macht, in Griechenland begann der Aufstieg der Syriza. Aber gleichzeitig kam es zu einer gegenläufigen Bewegung in den nördlicheren Ländern. In Deutschland formierte sich aus Protest die AfD (damals noch als nationallliberale Anti-Euro-Bewegung), in Frankreich erstarkte der Front National, in Großbritannien UKIP, in Ungarn kam Fidesz an die Macht, in Finnland stiegen die Wahren Finnen auf, in Polen die PiS-Partei, in den Niederlanden die "Partei der Freiheit", nur um einige zu nennen.Das generelle Schema war, dass in den südeuropäischen Staaten eher Linkspopulisten reüssierten (wenngleich in Griechenland und Italien auch oder sogar vorwiegend Rechtsextremisten aufstiegen), während in den Ländern nördlich der Alpen, manchmal zum ersten Mal, rechtspopulistische Parteien in die Parlamente kamen (wobei Frankreich hier eine Zwitterrolle spielt, die zu der beschriebenen Position zwischen den Stühlen durchaus passt). Ich denke das liegt vor allem daran, dass die spezifische jeweilige Unmut sich von diesen glaubhafter artikulieren ließ.
Die südeuropäisch geprägten Länder waren weiterhin Pro-EU, sie wollten Mitglied der Union bleiben (was ja auch maßgeblich zu Griechenlands mehrfacher Entscheidung für den Euro und entschiedenem Widerstand gegen Schäuble führte). Zugleich traten sie aber für eine stärkere Umverteilung und Vergemeinschaftung, mithin eine Vertiefung der Integration ein - sicherlich aus wohl verstandenem nationalen Eigeninteresse, aber dabei handelte es sich nun einmal um Themen, die eher von links als von rechts formuliert werden.
Umgekehrt fanden sich die Länder des nördlicheren Europas überwiegend in einer Abwehrstellung. Sie wollten vor allem eine weiter gehende Integration der Fiskal- und Wirtschaftspolitik verhindern und den aktuellen Integrationsstand bewahren. Auch hier spielten wohl verstandene Eigeninteressen eine Rolle, und die Form, die diese Integration etwa im ESM dann nahm, spiegelte deutlich die Präferenzen dieser Länder wieder.
Ein klarer Effekt dagegen ist, dass das Versagen der jeweiligen Populisten einen klaren Wechseleffekt hat: Wenn die eine Seite es nicht hinbekommt, wird die andere probiert. Das fällt vor allem in Italien und Griechenland auf, wo alle Regierungen seit 2012 erfolglos gegen die Beschränkungen der oben beschriebenen Dynamiken anrannten, scheiterten und dann an Wählergunst verloren. Auffällig ist denke ich allerdings, dass die linkspopulistischen Parteien (bislang) den Rechtsstaat und die Demokratie nicht nur nicht gefährden, sondern sogar zu seinen Garanten wurden - was man von den Rechtspopulisten, die die EU seither von einer Krise in die nächste jagen, so nicht behaupten kann.
Parlamentarische Selbstbehauptung
Die Europawahlen 2014 stellten eine gewisse Trendwende dar, was das viel beklagte Demokratiedefizit in der EU angeht. Seine verhältnismäßig machtlose Position, die wir beim Blick auf das politische System der EU genauer untersuchen werden, wurde langsam, aber kontinuierlich ausgebaut und erhielt mit dem Vertrag von Lissabon einen neuerlichen Schub. Im Jahr 2014 einigten sich die Führer der beiden größten europäischen Parteien, der konservativen Parteienfamilie EVP und der sozialdemokratischen Parteienfamilie S&D, Jean-Claude Juncker, in einem aggressiven Normenbruch die Parlamentarisierung der EU voranzutreiben.Der letzte Kommissionspräsident Barroso war noch klassisch durch die nationalstaatlichen Regierungen der EU in einem Konsensverfahren ernannt worden und ein eher farbloser Kandidat. Der Vertrag von Lissabon hatte dem Parlament das formale Recht eingeräumt, den Kommissionspräsidenten zu wählen - ein wertloses demokratisches Feigenblatt, da das Parlament nicht das Recht auf Ernennung der Kandidaten besaß.
Schulz und Juncker, deren beide Parteien eine solide Mehrheit im Parlament besaßen, einigten sich darauf, dass das Parlament keineN KandidatIn wählen würde, der nicht von derjenigen Parlamentsfraktion nominiert wurde, die die meisten Stimmen in der Europawahl erreichte. Anstatt also wie bisher die Vorschläge der Kommission abzunicken, wollten die Parlamentarier umgekehrt die Kommission dazu zwingen, ihren Wunschkandidaten zu nominieren - also entweder Juncker oder Schulz, je nachdem, wie die Wahl ausgehen würde.
Der Plan funktionierte. Das Parlament zwang den Regierungen seinen Willen auf, weil Juncker und Schulz beide gewiefte Politiker und erfahrene Parlamentarier waren, mit großem Rückhalt im Parlament (Fähigkeiten, die Schulz drei Jahre später herzlich wenig nutzen würden). Die EVP gewann die Wahlen 2014, in denen zum ersten Mal ein gesamteuropäischer Wahlkampf mit "Spitzenkandidaten" betrieben wurde, und Juncker wurde Kommissionspräsident.
Eine Wiederholung dieser Übung 2019 scheiterte jedoch an der Unfähigkeit des Parlaments, dasselbe Bündnis hinter den Kandidaten zu versammeln. Als die EVP 2019 gewann, nominierte sie Manfred Weber (CSU), ohne sich zuvor des nötigen Rückhalts in den anderen Fraktionen zu versichern, die daraufhin aus narzistischer Kränkung die Wahl sabotierten und des den Regierungen erlaubten, einmal mehr eine Kompromisskandidatin zu ernennen: Ursula von der Leyen wurde dadurch neue Kommissionspräsidentin. Die Entscheidung darüber, welche Struktur die Gewalten in der EU künftig haben würden, wurde dadurch auf 2024 verschoben.
Keine Verschnaufspause
Während die EU-StaatschefInnen und FinanzminsterInnen noch einen erbitterten Kampf gegen die neue griechische Regierung unter Alexis Tsipras und Yanis Varoufakis führten, die mit einem demokratischen Mandat im Rücken die EU moralisch zu erpressen hofften (und ultimativ scheiterten beziehungsweise ihren Bluff eingestehen mussten) und der die Union bis zum Zerreißen spannte und alle Ressourcen beanspruchte, brach an der Peripherie eine neue Krise los.Die Flüchtlingskrise von 2015 war, anders als die Finanzkrise, eine Krise mit Ansage. Bereits seit mehreren Jahren klagten die südeuropäischen Staaten an der europäischen Peripherie - vor allem Spanien, Italien und Griechenland - über die ständig steigende Belastung durch die zunehmende Zahl Flüchtlinge aus Nordafrika und dem Nahen Osten. Der Arabische Frühling ab 2011 und der syrische Bürgerkrieg ab 2012 erhöhten den Druck stetig weiter - zu einer Zeit, als die Finanz- und Wirtschaftslage dieser Staaten wegen der Finanz- und Eurokrise ohnehin angespannt war.
Die betroffenen Staaten baten permanent um Hilfe, aber anderen EU-Staaten zogen sich auf eine bekannte Position zurück, indem sie auf die rechtliche Lage verwiesen. Das Dublin-II-Abkommen hatte den besonders für Deutschland sehr vorteilhaften Passus, dass Flüchtlinge und Asylbewerber nur dort Aufnahme beantragen konnten, wo sie EU-Gebiet zuerst betreten hatten - was außer über Nord- und Ostsee sowie die Flughäfen für Deutschland unmöglich war, und da Flughäfen extraterritorial sind, war auch dieser Zugang versperrt. Das war eine extrem komfortable Situation, aus der sich hervorragend moralisierende Vorträge über gutes Haushalten und die Gültigkeit von Verträgen halten ließen.
Eine politische Lösung der Flüchtlingsfrage war aber auch völlig unrealistisch. Deutschland wäre möglicherweise bereit gewesen, eine europäische Verteilung der Flüchtlinge oder wenigstens eine gerechtere Verteilung der Kosten ihrer Aufnahme mitzutragen, aber besonders die neuen Mitgliedsstaaten Osteuropas und Großbritannien waren es sicher nicht - sicher nicht zufällig gerade die Staaten, in denen rechtspopulistische Bewegungen im Aufwind waren. Dazu nahmen die Finanz- und Eurokrise alle Aufmerksamkeit und Ressourcen in Anspruch.
Dieses Verständnis ändert aber nichts daran, dass der Dammbruch 2015 nicht vorhersehbar gewesen wäre. Zwar war die Wanderung zu diesem Zeitpunkt, mit dieser Demographie und unter diesen Bedingungen (Stichwort Syrien, Stichwort Balkanroute) so nicht prognostizierbar gewesen, aber dass das System irgendwo, irgendwann brechen musste - das war praktisch garantiert.
Was folgte war zuvordererst eine Wertekrise. Die Flüchtlinge, die sich 2015 langsam über die Balkanroute nach Norden wälzten, kamen aus katastrophalen Zuständen in überfüllten und unterfinanzierten griechischen Auffanglagern. Sie bewegten sich durch Länder, die nicht eben oben auf der Spitze von Rankings zu wohl ausgebautem Sozial- und Rechtsstaat stehen. Und sie erreichten schließlich Budapest, wo eine rechtsextremistische Regierung in offener Verletzung aller möglichen Abkommen und Konventionen die Grenze mit Stacheldraht abzuriegeln begann.
Die Frage war daher nicht, ob Europa diese Flüchtlinge aufnehmen konnte. Das konnte es, und wie sich zeigen sollte, konnte Deutschland das auch alleine. Das Problem war vielmehr dreigleisig.
Problem Nummer eins war, wie in der Eurokrise auch, die Sogwirkung. Deutschland hätte Griechenland aus der Portokasse retten können, aber das war nie die Frage. Genauso wenig war die Frage, ob man diese Flüchtlinge würde aufnehmen können, sondern was danach geschehen würde. Würde das nicht ein Signal in die gesamte Zweite und Dritte Welt senden, dass jedeR nach Deutschland kommen könne, wenn er oder sie es nur genug wünschte?
Damit verbunden war Problem Nummer zwei. Hier handelte es sich um ein Werteproblem. Denn die EU stand, wie wir mehrfach betont haben, auch als Wertegemeinschaft zusammen, besaß einen eigenen Gerichtshof für Menschenrechte und garantierte daher eine humane Behandlung von Flüchtlingen und eine grundsätzliche Aufnahme. Allein, diese Regelungen waren nie für eine solche Krise ausgelegt gewesen. Die EU stand daher vor der Wahl, entweder gegen ihre Werte oder gegen ihre vertraglichen Regelungen zu verstoßen. Ungarn wählte entschlossen den Werteverstoß; einem Orban war ohnehin nie an Menschenrechten und Demokratie gelegen. Merkel wählte, nach langem Zögern und Schwanken, den Verstoß gegen die Verträge.
Und das führt zu Problem Nummer drei, denn die Flüchtlingskrise ist auch ein politisches Problem. Deutschlands unilaterale Entscheidung, die syrischen Flüchtlinge 2015 aufzunehmen, umging die Blockade der EU, aber gerade dieses Umgehen war natürlich ein Verstoß gegen alles, wofür die Gemeinschaft rechtlich und politisch stand. Damit zog sich Merkel den Unmut vieler anderer RegierungschefInnen zu, was sicherlich zum generellen Unwillen weiterer Integration beigetragen hat.
Die Summe dieser Probleme zeigt deutlich, dass es keine Lösung gibt, die irgendwie als "gut" gelten kann. Die Flüchtlingskrise ist ein wicked problem, wie es in den Politikwissenschaften heißt, ein unlösbares Dilemma. Wenig überraschend ist die Flüchtlingspolitik von einem Kompromiss bestimmt, der keine Seite zufrieden stellt. Nach der Priorisierung der Werteunion schwenkte Deutschland bereits im Frühjahr 2016 entschieden in die andere Richtung zurück. Die EU schloss ein Abkommen mit dem türkischen Autokraten Recip Erdogan, das das schmutzige Geschäft des Landweg Blockierens für die Zahlung der metaphorischen 30 Silberstücke auslagerte, mit dem Effekt, dass man durch Erdogan erpressbar wurde und sich bei der Verteidigung der Werte völlig unglaubwürdig machte - was sowohl Erdogan als auch seine Gesinnungsgenossen in Budapest und Warschau seither weidlich ausnutzen.
Gleichzeitig wurden die Grenzen nach außen wesentlich vehementer als bisher geschlossen. Die südeuropäischen Staaten wurden mit dem Problem emphatisch und erneut allein gelassen, nicht einmal eine Lockerung der durch die Eurokrise aufoktroyierten Austerität (die in Griechenland mittlerweile wieder von einer Mitte-Rechts-Regierung vertreten wird, nachdem Syriza abgewählt wurde) wurde zugestanden. Ihre Reaktion dürfte nicht überraschen. Die Bilder aus Moria oder die Flüchtlingsboote versenkende griechische Küstenwache mit auf Frauen und Kinder schießenden Marinesoldaten sprechen eine eindeutige Sprache.
Brexit
Dieser faustische Pakt hat das politische Problem gelöst. Die Flüchtlingskrise ist seit spätestens 2017 kein politisch relevantes Thema mehr und wäre als solches ohne massive Schützenhilfe der Leitmedien (Stichwort Bundestagswahl 2017) auch schon vorher von der Agenda verdrängt worden. Doch in einem Anfall von spektakulär schlechten Timing fiel sie genau in jene Zeit, in der der Hasardeur in der Downing Street 10 sich seiner innenpolitische Probleme elegant durch ein Referendum zu entledigen hoffte.Es dürfte unstrittig sein, dass ein innenpolitisches Manöver selten so gehörig nach hinten los gegangen ist wie Camerons Referendum über den Brexit. Für die meisten Beobachter überraschend entschied sich im Sommer 2016 eine hauchdünne Mehrheit der Briten für den Austritt aus der Union. Die Flüchtlingskrise, die Konkurrenz durch osteuropäische ArbeitsmigrantInnen und, absurderweise, die Debatte über einen EU-Beitritt der Türkei bestimmten neben zahlreichen innenpolitischen Themen die von PolitikerInnen und Medien völlig verhetzt und verzerrte Debatte.
Es lohnt sich an dieser Stelle kurz bei der Frage des Türkei-Beitritts zu verweilen. Dieser stand seit den 1980er Jahren auf der europäischen Agenda, wurde jedoch wegen der offensichtlichen Defizite der Türkei in Sachen Rechtsstaat, Freiheit und Menschenrechte (die Kopenhager Kriterien, die jeder EU-Beitrittskandidat erfüllen muss) immer wieder verschoben.
Die größten Chancen hatte die Mitgliedschaft der Türkei, als Anfang der 2000er Jahre eine reformorientierte, pro-europäische Regierung unter Recip Erdogan an die Macht kam (ja, der Mann hat sich ein klein wenig gewandelt!) und in Deutschland die rot-grüne Regierung in falsch verstandenem Anti-Rassismus stark für den Beitritt trommelte. Letztlich zerschlug sich jede Hoffnung auf einen solchen Erfolg aber an einer Vielzahl von Faktoren und war angesichts der seitherigen Entwicklung der Türkei und Osteuropas sicherlich auch zum Besten. Aber aus Gründen, die nicht-konservative nicht-Briten vermutlich nie verstehen werden, wurde das Thema in der Brexit-Debatte 2016 mit großem Effekt in der Yellow Press und der reaktionären Wahlkampfmaschinerie hochgekocht.
Der Austritt Großbritanniens war ein nie dagewesenes Ereignis. Die EU wie auch das UK selbst mussten jeden Schritt erst einmal finden. Dass die britische Innenpolitik ein mehrjähriges, peinliches Schauspiel politischen Dilettantismus' an den Tag legte und ausgerechnet in dieser Zeit die Labour-Partei von einem verknöcherten Linkspopulisten beherrscht wurde, machte die Lage keinen Deut besser.
Für die EU allerdings zeigte sich eine beeindruckende Stärke. Der Austritt Großbritanniens zwang alle anderen kritischen Staaten zu einer Neubewertung ihrer Mitgliedschaft. Offensichtlich war der Austritt möglich und fortan auch denkbar. Gerade Polen und Ungarn mussten sich entscheiden, wo sie hier standen. Britische Hoffnungen, die EU würde hier nicht mit einer Stimme sprechen können, zerschlugen sich. Die EU27 bestimmten einen Vertreter für die Verhandlungen und ließen sich von May und Johnson nicht spalten. Stattdessen vertraten sie die Interessen des restlichen EU-Staaten entschlossen und einstimmig. Ungarn und Polen wollten, bei allem Dissens, emphatisch NICHT aus der EU austreten, sondern Mitglieder bleiben. Damit gaben sie Verhandlungsspielraum und Hebelwirkung auf, die sich in den kommenden Jahren noch als segensreich für die gesamte EU erweisen könnte.
Stagnation
2017 schien das Pendel dann in die andere Richtung zu schwingen. In Frankreich setzte sich der bekennende Pro-Europäer und Wirtschaftsliberale Emmanuel Macron bei der Präsidentschaftswahl und, noch entscheidender, bei der folgenden Nationalversammlungswahl mit seiner neuen Partei En Marche gegen die Rechts- wie Linkspopulisten durch. Der Vormarsch der Populisten und die Desintegration der EU waren damit gestoppt, das Gespenst eines Frexit gebannt. Seither hat sich die EU deutlich stabilisiert.Gleichzeitig aber ist sie auch stagniert. Obwohl Macron zahlreiche Reformvorschläge aufs Tablett brachte, weitreichend wie sie noch nie zuvor von einem französischen Präsidenten angeboten wurden, schlug die Merkel-Regierung sie ihr ausgestreckt dargebotene Hand zur Seite. Die vom Rechtspopulismus dominierte Bundestagswahl 2017 und das völlige Verglühen des pro-europäischen Martin Schulz etablierte Merkel einmal mehr als die Madame Non der EU. Seither werden vor allem die bekannten Problemfelder beackert - von jedem Nationalstaat für sich.
Dies änderte sich auch nicht, als 2020 die Corona-Krise ausbrach. Wie bereits bei der Finanz- und Eurokrise zuvor gab es keinerlei ernsthafte Bestrebungen um europäische Lösungen oder auch nur eine Einbindung der europäischen Institutionen. Stattdessen dominierte der flagrante Vertragsbruch durch Grenzschließungen und andere Maßnahmen. Emphatisch entschied sich ganz Europa, anders als noch in der Flüchtlingskrise, gegen die europäischen Werte UND die europäischen Verträge. Ein hoffnungsvolles Signal für die Zukunft kann das kaum sein. Allenfalls der Entschluss, die Austeritätspolitik weiter dadurch aufzuweichen, dass die EU Gelder für den Wiederaufbau zur Verfügung stellt, die de facto einen Transfer von reichen an arme Staaten darstellen - zum ersten Mal in der Geschichte der EU - einen Lichtblick für überzeugte Verfechter einer weiteren Integration dar.
Weiter geht's im sechsten Teil.
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