Mittwoch, 28. Oktober 2020

Forsch voran, den Blick nach hinten

 

Die Präsidentschaft Ronald Reagans ist der politische Fixpunkt der amerikanischen Konservativen. Auf ihn beziehen sie sich, ihn haben sie zum Säulenheiligen gemacht. In geringerem Maße, aber durchaus wahrnehmbar gilt dasselbe in Teilen des progressiven Spektrums für Franklin Roosevelt (die moderate Linke tut sich traditionell schwer damit, den Gottvater des amerikanischen Sozial- und Interventionsstaats zu verehren, weswegen sich das dort nicht so durchgesetzt hat). Gerne wird mit Verweis auf die Großen Alten der Status Quo beklagt oder der eigenen Politik eine Aura von höchsten Weihen gegeben. Aber diese Mythenbildung mit ihrem Blick nach hinten schadet mehr als sie nützt. Das zeigt bereits der Blick darauf, wo sie herkommt.

Sehen wir uns zuerst Reagan an, zum einen, weil er wesentlich prominenter und offensichtlicher beschworen wird, und zum anderen, weil er mir den Anlass für diesen Artikel gab. Konkret war der Anlass ein Artikel im American Conservative mit dem Titel "The Reagan Revival We Need", in dem es unter anderem heißt: 

Reagan was a political outsider when he ran for the Republican nomination. Thanks to party machinations, however, Reagan was narrowly outdone at the 1976 convention by Gerald Ford. It was a decision Republicans quickly came to regret as Ford and the party’s old guard lost to Jimmy Carter that November. To say many Republicans had buyer’s remorse was the understatement of the year. [...] Few of the East Coast elites thought well of Reagan. Mostly, in the newsrooms of The Washington Post and The New York Times and on the campuses of the Ivy League colleges, Reagan was dismissed as a lightweight who would draw us into a nuclear war. The doom and gloom of the media and educational classes has, alas, not changed in 40 years. If anything, they’ve become more pigheaded, illiterate, and naive. Reagan always knew who his enemies were: the pseudo-intellectual elites; the kommentariat. [...] .Someone once quipped that if you asked Reagan and Carter what time it was, Carter would tell you how to build a watch but Reagan would say, “It’s time to get this country moving again!” Reagan knew leadership was all about inspiring people. The elites hated it but the American people loved it. [...] Americans looking for good will today may not find it in the current election, but they should take comfort knowing our country has come together before. As Reagan demonstrated, with patience and principled campaigning, it can come together again. (Craig Shirley, The American Conservative)

Die Konservativen haben mit Reagan dasselbe Problem wie die Progressiven mit Franklin Roosevelt: einen übermäßig rosarot gefärbten Blick als Bannerträger ihrer jeweiligen Seite, erfolgreicher Säulenheiliger, ohne ein tieferes Verständnis dafür, was den damaligen Erfolg möglich machte und wer die jeweilige Person im Kontext ihrer Zeit eigentlich war. Stattdessen werden Legenden erzählt, politische Mythen, die zwar wirkmächtig für die eigene Seite sind, aber nur wenig mit der geschichtlichen Realität zu tun haben. Das ist so lange okay, wie man sie als exakt das nutzt - Einigkeit schaffende Mythen. Wenn man aber versucht, konkrete Handlungsanweisungen aus diesen Mythen zu ziehen, sie also glaubt, wird es problematisch.

Die amerikanischen Konservativen sind völlig besoffen von Reagan, und ich habe hier oben in einigen Auszügen des American Conservative nur Highlights zusammengefasst. Wie auch die Progressiven mit Roosevelt haben sie vergessen, als wie wenig prinzipientreu, gar als Verräter Reagan damals wahrgenommen wurde. Seine Verehrung erfolgte erst als bewusste Wahlkampfstrategie in den 1990er Jahren; zuvor war seine Beliebtheit nicht sonderlich hoch. Es lohnt sich, darauf zurückzublicken.

Reagans politische Karriere begann in den 1950er Jahren, als er seine Bekanntheit als B-Movie-Star in den wesentlich stabiler ertragreichen grifter course auf der radikalen Rechten umsetzte. Lange vor Rush Limbaugh und Glenn Beck vermochte er es, sich selbst als Produkt zu vermarkten - indem er jeden Anspruch an Realitätsgehalt und Differenzierung aufgab und der kleinen, aber engagierten und loyalen konservativen Bewegung gab, was sie wollten.

Das machte ihn zwar zu einer Berühmtheit in diesem Spektrum, doch das Spektrum und die konservative Bewegung erlitten 1964 eine der katastrophalsten Niederlagen in einer Präsidentschaftswahl, die je eine Partei in den USA erlitt, als Lyndon B. Johnson seinen extremistischen Konkurrenten Barry Goldwater in einem Erdrutschsieg beiseite fegte.

Doch wie in jeder Bewegung führte die Niederlage nicht nur dazu, dass die Verlierer delegitimiert wurden. Die republikanische Partei war gespalten: Die conservatives waren der Überzeugung, dass man nur noch unnachgiebiger auftreten müsse (wie jede radikale Bewegung seit Anbeginn der Zeit), um den gewünschten Erholg zu erhalten, während die moderaten Republicans eine Rückkehr zur Mitte der Gesellschaft wünschten. Unter Nixon bekamen sie einen klassischen Kompromiss; sein Nachfolger Ford dagegen galt als klassischer Vertreter des konservativen Partei-Establishments. 1976 trat Ronald Reagan als innerparteilicher Herausforderer gegen Ford an. Der verlor die Wahl knapp gegen Jimmy Carter, nicht nur, aber sicher auch wegen der Rebellion des radikalen Parteiflügels. In einer Ironie des Schicksals erlitt Carter 1980 dasselbe Schicksal, als Ted Kennedy bei den primaries die Revolution der linken Parteibasis gegen Carter anführte.

Reagan war damit zum unbestrittenen Anführer der conservatives geworden. In den primaries 1980 schlugen sie ihre Entscheidungsschlacht gegen die Moderaten, deren Bannerträger George H. W. Bush war. Er unterlag und trat als Vizepräsident in Reagans Kabinett ein. Die ersten beiden Jahre von Reagans Präsidentschaft waren von einem Versuch der weitmöglichen Umsetzung des Radikalen-Programms geprägt. Der Leitzins schoss in die Höhe, die Steuersätze fuhren in den Keller, die Wirtschaft gleich mit, Kulturkriege wurden ausgefochten und die Ungleichheit stieg deutlich. Gegenüber dem Kreml eskalierte Reagan und startete fast eigenhändig einen zweiten Rüstungswettlauf, der 1983 in Umfeld der NATO-Übung "Able Archer" beinahe eskalierte.

Doch dann geschah etwas Seltsames: Reagan moderierte sich. Zusammen mit den Democrats, die immer noch den Kongress dominierten (gerrymandering und dem noch haltenden Bündnis mit den Dixiecrats sei Dank) verabschiedete er eine grundsätzliche Steuerreform, die wesentlich nachhaltiger war als das radikale Programm, für das er heute in GOP-Kreisen gefeiert wird. Nach dem Desaster der Bork-Nominierung gingen seine restlichen SCOTUS-Nominierungen im Einvernehmen mit den Democrats durch.

Vor allem moderierte Reagan seine Tonlage gegenüber dem Kreml. Es ist bis heute umstritten, was ihn antrieb und welche Überlegungen hinter seiner Politik steckten (und ob überhaupt eine Doktrin zugrunde lag), aber seine neue, auf Koexistenz und geradezu radikale Abrüstung setzende Politik, die im INF-Vertrag 1987 ihren Höhepunkt fand, machte ihn in Teilen der Partei zum Verräter und Appeaser. Als er 1988 das Amt verließ, betrug sein approval rating 63% - nur 4% mehr, als Obama 2016 auf die Waage bringen würde. Im Durchschnitt erreichte er 52,8%.

Vermutlich wäre Reagan im selben Erinnerungsloch verschwunden, in das sein Nachfolger George Bush fiel (dessen approval rating im Schnitt immerhin 60,9% betrug!). Aber es kam anders. Schon allein, weil Reagan zuerst der Demenz und dann dem Tod zum Opfer fiel und sich daher, anders als etwa Bush, gegen die Vereinnahmung nicht wehren konnte, begannen radikale und extremistische Aktivisten im Aufwind der Gingrich-Revolution 1994 damit, Reagan zu verherrlichen.

Eine treibende Kraft war der legendäre Steuersenkungslobbyist Grover Norquist, der wohl die größte Verantwortung an der Radikalisierung der Republicans überhaupt trägt. Norquist baute Reagan gezielt zu einer mythischen Figur auf, gründete entsprechende Kommittees und Stiftungen und schuf eine Erinnerung an einen unnachgiebigen Kalten Krieger und, vor allem, Steuersenker, die mit dem realen Politiker wenig gemein hat. Seither wird Reagan beschworen, wie man in religiösen Kreisen Jesus beschwört: What Would Reagan Do ist das Mantra der republikanischen Partei geworden, nur dass man sich nicht fragt, was der historische Reagan tun würde, sondern einfach die eigenen Präferenzen mit einem "This Is What Reagan Would Do" zukleistert.

Ein ähnliches Problem umgibt die Berufung auf Franklin Roosevelt und den New Deal, die an der progressiven Basis und unter vom Mainstream deutlich abweichenden ÖkonomInnnen so beliebt ist. Roosevelt kandidierte 1932 als eine Art Enigma gegen Herbert Hoover. Bewusst ließ der New Yorker Gouverneur offen, was genau sein "New Deal" eigentlich enthalten sollte; sicherlich nicht gemeint war eine expansive staatliche Ausgabenpolitik. Zu den schärfsten Angriffen gegen Präsident Hoover gehörte in diesen Tagen schließlich, dass die Staatsschuld unter ihm zu stark angestiegen sei. Roosevelt versprach für seinen Wahlsieg Austerität!

Dieses Muster zog sich in die gesamte Übergangsperiode zwischen der Wahl 1932 und der Inauguration 1933. Es war selbst engsten Beratern unklar, welche Politik Roosevelt genau umzusetzen gedachte, und der president elect weigerte sich beharrlich, sich in die Karten schauen zu lassen und sich irgendwie festzulegen. Der 1933 inaugurierte Präsident gehörte aber noch zu einer Politikgeneration, die "mein dummes Geschwätz von gestern" (Adenauer) im Zweifel wenig anging.

Was auch immer man über Roosevelt aber sagen will, er war bereit, sich auf neue Ideen einzulassen. Recht schnell begannen die Maßnahmen des New Deal, die allerdings weit weniger klassischen keynesianischen Rezepten folgten, als dies die progressive Folklore seither wahrhaben will. Eher versuchte Roosevelt es über eine Interventionsschiene, die mit Regulierung und einer nationalistisch angehauchten Kampagne inklusive Schutzzöllen die Wirtschaft befördern sollte. Weder funktionierte das sonderlich gut (wenngleich besser als die passive Austerität Hoovers) noch hatte es ultimativ Bestand vor einem tief politisierten SCOTUS. Dies führte zur SCOTUS-Krise, die gerade gerne als cautionary tale bemüht wird.

Dabei wird gerne übersehen, dass Roosevelt diese Auseinandersetzung am Ende gewonnen hat. Die erzkonservativen Richter, die aus politischen Gründen Roosevelts Administration in den Arm fielen, wurden durch den Plan des Präsidenten, einfach die Zahl der Richter zu erhöhen ("court packing") genauso erschreckt wie der Rest der Öffentlichkeit. Man erinnert sich zwar gut daran, dass die eigene Partei - von der Medienöffentlichkeit gar nicht zu sprechen - Roosevelts Plan harsch kritisierte und ihm die Gefolgschaft verweigerte. Aber die SCOTUS-Richter sahen ein, dass sie selbst zu weit gegangen waren und gaben ihren Widerstand gegen den New Deal auf. In den folgenden Jahren traten viele der "Reiter der Apokalypse", wie sie genannt wurden, zurück und machten so den Weg für 30 Jahre liberale Dominanz an Amerikas höchstem Gericht frei.

Es war letztlich der Zweite Weltkrieg, der die Schleusen zu einer radikalen Umgestaltung des amerikanischen Wirtschaftssystems komplett öffnete und eine Ära beispielloser Prosperität unter keynesianischen Prinzipien einläutete. Vorher war Roosevelt nicht nur nicht imstande gewesen, entsprechende Maßnahmen durchzusetzen; er schuf auch eine selbst verschuldete Rezession, als er 1937 den New Deal beendete und zur Austerität zurückkehrte. All das wird von Progressiven, die sich auf die "Erfolgsstory New Deal" berufen und wahlweise einen "New New Deal" oder "Green New Deal" ausrufen, gerne vergessen, genauso, wie der Erfolg von Roosevelts court packing von heutigen moderaten WarnerInnen vergessen wird.

Wer also mit vergangenen Präsidenten argumentiert, sollte vielleicht ihre eigentliche Geschichte studieren und sich nicht von Legenden und Mythen leiten lassen. Man endet sonst schnell in einer Sackgasse, denn Mythen schaffen zwar Einigkeit, aber sie geben keine guten Ratgeber ab - stattdessen leiten sie oft genug mit simplistischen Argumenten in die Falle.

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