Freitag, 28. August 2020

Die Mär vom Wirtschaftswunder (Überarbeitung)


Jeder Staat hat seinen Gründungsmythos. Das Deutsche Reich hatte Sedan, die Weimarer Republik den Versailler Vertrag und die Revolution von 1918/19, Frankreich die Französische Revolution, England die Glorious Revolution, die USA den Unabhängigkeitskrieg. Die UdSSR hatte die Oktoberrevolution, China hat den Langen Marsch, Vietnam den Krieg gegen Frankreich und Israel den Krieg von 1948, den es mit Palästina als Gründungsmythos teilt. Die obige Aufzählung zeigt, dass Gründungsmythen nicht immer, aber doch meist positiv sind. Was die obige Darstellung noch nicht zeigt, was aber kurz skizziert werden soll, ist, dass diese Gründungsmythen historisch nie haltbar sind und stark eine bestimmte Deutung forcieren, die wichtige Tatsachen unter den Tisch fallen lässt. Sedan ist hier noch am Ehrlichsten; die gewonnene Schlacht gegen die Franzosen und anschließend die Ausrufung des Reiches im Spiegelsaal von Versailles sind faktisch belegte Ereignisse; freilich unterscheidet sich ihre Interpretation.

Mythen

Der "Sturm auf die Bastille", wie er
sicher nicht stattfand
Die Weimarer Republik wurde Zeit ihrer Existenz von der Dolchstoßlegende geplagt, die ihr negativer Gründungsmythos war – Versailles hing ihr wie ein Klotz am Bein, und nie konnte sich eine halbwegs objektive Deutung der Geschehnisse durchsetzen, was wie kein anderes Beispiel die Wichtigkeit einer fundierten historischen Wissenschaft zeigt, die Mythen dekonstruiert. Die Französische Revolution ist ebenfalls vergleichsweise “ehrlich”, obgleich der identifikationsstiftende Sturm auf die Bastille nie stattgefunden hat; er ist eine spätere Legende. Die Blutbäder, zu denen die Revolution später geriet, werden dagegen kaum unter den Tisch gekehrt. Englands Glorious Revolution wird gerne als Befreiungsakt des Volkes dargestellt, doch kann davon keine Rede sein: es ist die (adelige) Oberschicht, die hier gegen den König aufbegehrt und ihm Privilegien abtrotzt, die sie Jahrhunderte später in einem zähen und letztlich vergeblichen Abwehrkampf gegen das Volk verlieren wird. Die Amerikaner unterstützen die Unabhängigkeitsbewegung keinesfalls so einheitlich, wie das heute gerne dargestellt wird, tatsächlich waren kaum ein Drittel von ihnen Unabhängigkeitsbefürworter.

Auch weiß man heute, dass es mit der “Unterdrückung” durch England nicht sonderlich weit her war. Sowohl beim Langen Marsch als auch bei der Oktoberrevolution werden die zahllosen Opfer gerne unter den Tisch gekehrt; die Oktoberrevolution weiß außerdem mit dem “Sturm auf das Winterpalais” von St. Petersburg noch eine Bastille-Heldengeschichte aufzufahren, die so nie stattfand. Israels und Palästinas Gründungsmythos hingegen ist vor allem eine Schlacht um die Deutungshoheit über einen Krieg, dessen Ausgang und Verlauf außer Frage stehen. Nationalmythen gibt es überall, und oft steckt ein Körnchen Wahrheit und viel Klischee dahinter, das einen politischen Zweck erfüllt – den Bürgern ein Stück Identifikation und Vorbild zu bieten. Manche Mythen leisten diese Aufgabe besser als andere. Wir haben den Mythos vom Wirtschaftswunder.

Mythos Wirtschaftswunder

Der vergoldete millionste Käfer, Sinnbild
Zu Beginn der Auseinandersetzung soll der Mythos zuerst kurz beschrieben werden, wie er stets präsentiert wird: Nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 lag Deutschland in Schutt und Asche. Die Menschen hausten in Ruinen, die Fabriken waren zerstört. Die "historische Uhr" springt jetzt sofort auf 1948 um, die Jahre dazwischen finden im Allgemeinen nicht statt. Es kommt die Berlinblockade; der böse Russe zeigt sein wahres Gesicht, während der Amerikaner uns rettet und Schokolade an Minifallschirmen für Kinder abwirft. Dann kommen Marshallplan, die D-Mark, Erhard gibt die Wirtschaft frei und mit einem Schlag beginnt das Wirtschaftswunder. Es gibt viel zu kaufen, gleichzeitig hat man Geld, und die Wirtschaft brummt. Die Menschen verdienen Geld, fahren in Urlaub, und die BRD entwickelt sich rasant zum Konsumparadies. Das Wirtschaftswunder endet in den späten 1960er Jahren, passend zur Regierungsbeteiligung der SPD.

Warum nun ist das Wirtschaftswunder der Nationalmythos der Deutschen? Unter den oben präsentierten Nationalmythen sticht es heraus, denn es ist ein wirtschaftlicher, kein politischer Mythos. Kein Krieg, der gewonnen wurde, kein König, der gestürzt wurde. Das ist ungewöhnlich und es prägt die BRD noch heute auf vielfältige Art und Weise.
Ludwig Erhard, 1957
  • Zum einen besagt der Mythos, dass das Wirtschaftswunder massiv dadurch begünstigt wurde, dass sich der Staat heraushielt – Erhard gab entgegen dem Willen der Briten durch die Preise die Wirtschaft frei. Dieses Ressentiment gegen staatliche Steuerung kann auf der Klaviatur deutscher Gefühle ungeheuer leicht aktiviert werden.
  • Zum anderen ist die Hilfe der Amerikaner als Anschubleistung – Stichwort Marshallplan – Bestandteil des Mythos’. Dies war ungeheuer wichtig, um die Freundschaft zwischen Deutschland und den USA zu legitimieren und mit positiven Gefühlen aufzuladen.
  • Zum weiteren beruhen Gründungsmythen auf der Wirtschaftswunderzeit. Aldi, Lidl, dm – als pars pro toto – entstehen in dieser Zeit. Es ist die deutsche Version vom Tellerwäscher zum Millionär – weniger mit gewitzter Idee als mit eiserner Sparsamkeit und unglaublichem Fleiß zum Erfolg. Sie bestimmt noch heute diese überaus wichtigen Konzerne und damit den Alltag vieler Deutscher, die bei ihnen einkaufen.
  • Ein letzter Punkt ist die fast grenzenlose Verehrung Erhards. Obwohl sich sein Part am Wirtschaftswunder eigentlich in Grenzen hält, wie wir später noch sehen werden, gilt er als wirtschaftlicher Übervater. Wer es heute schafft, sich mit ihm in eine Reihe zu stellen – wie es noch alle aufstrebenden WirtschaftspolitikerInnen getan haben – kann sich breiter Zustimmung fast sicher sein.
All diese Faktoren führen dazu, dass heutige Politik durch gezieltes Spielen auf der Klaviatur deutscher Gefühle mit Anklängen an das Wirtschaftswunder legitimiert werden kann. Man denke nur an Angela Merkels ewige “schwäbische Hausfrau”, eine der wohl dümmsten Metaphern der letzten Jahre. Deswegen ist es wichtig, diesen Mythos zu verstehen, anzuerkennen und zu dekonstruieren.
Das “Wunder” gibt es so eigentlich nicht. Die wirtschaftliche Entwicklung nach 1948 war eine Folge vieler Faktoren, von denen keiner allzu wundersam war. Eigentlich eignet sich die Entwicklung, die damals so viele Zeitgenossen auch und gerade im Ausland überraschte nicht zur mystischen Überhöhung, wie folgende Faktoren verdeutlichen sollen.

Eine Bestandsaufnahme

Offizielles Logo des Marshallplans
Der Marshallplan: Er war hauptsächlich eine Propagandaangelegenheit. Die bezahlten Beträge waren viel zu gering, um eine ernsthafte Wirkung auf die Ökonomie gehabt zu haben, wie ihnen fälschlicherweise oft unterstellt wird. Das heißt nicht, dass der Marshallplan bedeutungslos gewesen wäre. Seine wahre Wirkung lag in der Psychologie begründet: die Amerikaner, die das Schmuddelkind Deutschland unterstützten - damit wurden Absatzmärkte geöffnet. Deutsche Geschäftsleute konnten international verkehren. Außerdem war klar, dass zerstörerische Nachkriegspläne wie der Morgenthau-Plan endgültig vom Tisch waren und die Amerikaner planten, Deutschland in eine westlich-kapitalistisch geprägte Zone einzubeziehen. Die Unsicherheit, Gift für langfristige Investitionen, war vom Tisch. Der Wiederaufbau der Volkswirtschaften Westeuropas, vor allem Frankreichs und Großbritanniens, die dadurch nicht wie in den 1920er Jahren in eine toxische Spirale aus Kriegsschulden und Reparationen gezwungen wurden und stattdessen, anders als nach dem Ersten Weltkrieg, als Absatzmärkte für die deutsche Wirtschaft infrage kamen, spielte ebenfalls eine entscheidende Rolle.

Die Währungsreform: Fester Bestandteil des Mythos vom Wirtschaftswunder ist die Währungsreform von 1948. Das heißt jedoch nicht, dass sie nicht wichtig und bedeutend gewesen wäre. Die deutschen Finanzen waren 1947/48, wie nach dem Ersten Weltkrieg auch, durch eine Hyperinflation völlig zerrüttet (seit 1944 war die Kriegswirtschaft der Nazis eigentlich nur noch,davor zu Teilen, durch die Notenpresse erhalten worden). Wie 1923 kappte die neue Währung (damals Rentenmark, dieses Mal Deutsche Mark) die Altbestände rigoros. In einem egalitären Mythos erhielt jeder Bürger dasselbe Anfangskapital von rund 60 D-Mark, Sparguthaben wurden im Verhältnis 10:1 drastisch abgewertet - im Gegensatz zu Kapitalanlagen, was die Unternehmer deutlich begünstigte und von Anfang an mit einem großen Kapitalstock zum Wiederaufbau ausstattete. Diese Reform war überwiegend von den Amerikanern unter dem Finanzexperten Tennenbaum betrieben worden, wenngleich Erhard es verstand, sich den Ruhm dafür selbst umzuhängen.

Für die CDU auch 1978 noch ein Wahlkampfschlager
Erhards Reformen: Ebenfalls fester Bestandteil des Mythos', aber nicht weniger relevant, war Erhards Entschluss von 1948, gegen den ausdrücklichen Willen der Besatzer die Preise freizugeben. Dazu kamen weitere den Wünschen vor allem der Briten entgegengesetzte Wirtschaftsreformen, die die deutsche Wirtschaft klar auf einen kapitalistisch-wettbewerbsorientierten Kurs setzten. Diese Entscheidung sollte sich als ebenso wegweisend wie richtig erweisen.

Die Kriegswirtschaft: Es ist paradox, aber die zerstörerische Wirtschaftspolitik der Nationalsozialisten, die 1944-1947 zum völligen Zusammenbruch der deutschen Finanzen führte, hatte in ihrer expansiven Natur gleichzeitig ein starkes Fundament für den Nachkriegsboom gelegt. Zwar ist korrekt, dass 24% des westdeutschen Maschinenparks durch den Krieg zerstört worden waren. Aber die verbliebenen 76% lagen immer noch deutlich über dem Stand der Friedenswirtschaft von 1936! Zudem waren die im Krieg angeschafften Maschinen alle flexibel nutzbar und auf neuestem technischen Stand, konnten also leicht für die Friedenswirtschaft umgestellt werden. Zudem hatte die Kriegswirtschaft auf der Ausbeutung von Millionen von Zwangsarbeitern und der Extraktion riesiger Milliardenbeträge beruht, so dass viele dieser Investitionen effektiv nicht bezahlt wurden und zusätzlich der zerrütteten Wirtschaft des besetzten Europa aufgebürdet worden waren.

 Luftangriff auf das Ruhrgebiet, 1943
Die Kriegszerstörungen: Es klingt banal, aber wenn man sich die Infrastruktur und Wirtschaft auf einer Skala von 0 (nicht vorhanden) bis 100 (perfekt) vorstellt, dann ist der Aufbau von 0 auf 70 leichter als von 95 auf 100, wie jeder weiß, der einmal eine sehr gute Leistung auf eine ausgezeichnete verbessern wollte. Es konnte nach 1945 eigentlich nur noch aufwärts gehen, die Frage war also nur, wie schnell. Das Wettrennen mit der DDR gewann die BRD jedenfalls klar- die Hypothek der sowjetischen Demontagen, harschen Reparationsbelastungen und zerstörerischen Wirtschaftspolitik erwies sich als wesentlich zu groß, um überwunden zu werden. Was jedoch selten bedacht wird ist Folgendes: nicht nur die Gebäude lagen in Schutt und Asche, sondern auch viele Maschinen - in der BRD immerhin 24% des Bestandes. Dazu kamen weitere Demontagen, wenngleich in geringerem Umfang als in der späteren DDR. Als man alles wieder aufbaute, wurden auch neue Maschinen angeschafft – das Neueste, was gerade verfügbar war. Damit verschaffte sich Deutschland schnell eine Führungsposition, paradoxerweise gerade gegenüber Ländern wie England, die von Kriegszerstörungen vergleichsweise verschont geblieben waren, woraus die große Überraschung über die schnelle Erholung – das “Wunder” – denn auch resultierte.

Die Ostgebiete: Zu den eher unerwartet positiven Nebenwirkungen des verlorenen Krieges gehörte, dass Deutschland sämtliche Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie verlor; die neue Bundesrepublik zudem praktisch alles östlich der Elbe Liegende. Der nicht zu unterschätzende Vorteil für die Erholung der westdeutschen Wirtschaft in diesen Verlusten, relativ etwa zur Weimarer Republik, bestand darin, dass die alte ostelbische Elite keinerlei Einfluss in der Politik mehr besaß. Schon im Kaiserreich war der ostelbische Adel ein ständiger Klotz am Bein gewesen, in Weimar nachgerade systemzersetzend. Die Bundesrepublik musste keine parasitäre, reaktionäre mit millionenschweren Subventionen durchfüttern, die jede wirtschaftliche und politische Modernisierung stur blockierte.

Die Reparationen: Anders als in der DDR, die bis 1954 aus einer wesentlich schlechteren Substanz pro Kopf eine Summe von rund 1080 Dollar an Reparations- und Besatzungskosten aufzubringen hatte, betrug diese in den Westzonen gerade einmal rund 150 Dollar. Auf der Londoner Schuldenkonferenz von 1953 wurde zudem die Frage der Vorkriegsschulden für Deutschland extrem vorteilhaft geklärt. Diese angesichts der Verheerungen des Krieges erstaunlich geringe Belastung trug in großem Maß dazu bei, dass die deutsche Wirtschaft wachsen konnte - im Gegensatz zu Weimar, dessen wesentlich schlechtere Ausgangslage durch Reparationen zusätzlich belastet worden war.

Der Fachkräfteboom: Der Krieg hatte außerdem dafür gesorgt, dass alte soziale Schranken niedergerissen worden waren. Der eklatante Fachkräftemangel an allen Fronten, realen wie sprichwörtlichen, hatte vorherige Ausbildungsbeschränkungen und lang verteidigte Besitzstände niedergerissen. Der verbliebene Arbeiterstamm, der bis Ende 1946 größtenteils aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, war daher außerordentlich gut ausgebildet. An vielen Stellen gelang es Unternehmern, selbst wenn sie ihre Kapitalanlagen an Bomben oder Demontagen verloren hatten, dank des Humankapitals schnell wieder aufzusteigen - vorausgesetzt, sie konnten es zusammenhalten. Aus dieser gegenseitigen Abhängigkeit entstand die viel gerühmte "Sozialpartnerschaft".

Die Sozialpartnerschaft: Bereits 1946 wurden in den Westzonen, noch vor der Gründung von Gewerkschaften, Betriebsräte zugelassen. Diese Innovation sollte nicht unterschätzt werden, denn die Betriebsräte waren, anders als die Gewerkschaften zur Weimarer Zeit, wesentlich enger mit ihren jeweiligen Unternehmen verzahnt. Die Belegschaften identifizierten sich eng mit ihren jeweiligen Unternehmen und, was mindestens ebenso wichtig war, die Unternehmer sich mit ihren Belegschaften. Dadurch entstand eine hohe gegenseitige Loyalität, die zu der außerordentlichen hohen Produktivität der deutschen Facharbeiter wesentlich beitrug.

Keynes in Bretton Woods (rechts)
Bretton Woods: 1944 wurde in der Konferenz von Bretton Woods ein neues Weltwährungssystem beschlossen. Hauptverhandlungspartner waren die Briten und die Amerikaner, von denen Letztere erstmals von ihrem durch den Krieg errungenen Weltmachtstatus Gebrauch machten, den die Briten nicht besaßen. John Maynard Keynes, der die Verhandlungen für die Briten führte, kam mit seinen Vorschlägen kaum durch. Der Dollar wurde goldgedeckte internationale Leitwährung in einem System fester Wechselkurse, der IWF zur Stabilitätssicherung gegründet. Für Deutschland war dieses System ein echter Gewinn: die D-Mark wurde mit 4,80 DM pro Dollar drastisch unterbewertet, wie sich bald zeigen sollte. Diese Unterbewertung war ein Schlüssel im Erlangen des Titels "Exportweltmeister", der in Deutschland heute noch wie ein Fetisch verehrt wird (obgleich er damals zugegeben noch nicht in Mode war; griffig ist er dennoch). Deutsche Produkte waren auf dem Weltmarkt extrem billig und brachten Devisen ins Land.
Lohnzurückhaltung: Beim Erreichen der astronomischen Exportüberschüsse ist neben der unterbewerteten D-Mark noch ein zweiter Faktor ausschlaggebend, auf den sich auch der heutige Exportboom der Nuller-Jahre stützt: die Lohnzurückhaltung der damaligen Zeit. Die Produktivität stieg deutlich schneller an als die Löhne, die Lohnstückkosten sanken. Die Unternehmer kamen somit schnell an Kapital, das sie dann wieder reinvestieren konnten. Zudem wurden dadurch die deutschen Produkte im internationalen Vergleich noch billiger als durch die generell hohe Produktivität und Effizienz der Wirtschaft und die unterbewertete D-Mark ohnehin bedingten. Dass dabei der deutsche Binnenmarkt ungeheuer schwächelte, ist ein Problem, an dem wir noch heute laborieren.

Koreakrieg
Der Koreakrieg: Das Wirtschaftswunder kam nicht schon 1948 mit der Einführung der D-Mark richtig in Schwung, sondern 1950 mit dem Beginn des Koreakriegs. Die USA, deren brummende Wirtschaft zu dieser Zeit den Weltmarkt beherrschte, mussten erneut ein großes Militärbudget stemmen und waren nicht mehr in der Lage, den Weltmarkt wie vorher zu beliefern. In die so entstandene Lücke sprangen die deutschen Produkte, die ansonsten deutlich schlechtere Chancen gehabt hätten. Auch der amerikanische Binnenmarkt, der zuvor - schon allein den Bedingungen der Kriegswirtschaft wegen - praktisch autark gewesen war, lechzte plötzlich nach Importen.

Die amerikanischen Importzölle: Alle bisher beschriebenen Faktoren, so günstig sie auch sind, hätten den deutschen Exporten nicht zum Durchbruch verholfen, wenn die USA die Wirtschaftspolitik aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg fortgeführt und sich protektionistisch verhalten hätten. Doch die USA senkten ihre Importzölle stark ab, obwohl es dafür keine objektive Veranlassung gab. Sie öffneten damit ihren Markt weit für die europäischen Produkte - und damit vor allem die deutschen. Der gestiegene amerikanische Bedarf an ausländischen Waren bei gleichzeitiger Öffnung ihres Marktes schuf einen Nachfragesog, für den die deutsche Exportwirtschaft prädestiniert war.

Die Kolonien: Aus deutscher Sicht ist die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine vom Krieg verschonte. Friedlich möchte man sie nicht reinen Gewissens nennen, wenn man die Geschehnisse jenseits des Eisernen Vorhangs betrachtet, doch Kriege führten weder BRD noch DDR. Sie entsandten nicht einmal Truppen in Krisengebiete ihrer Verbündeten (obwohl sowohl Adenauer als auch Ulbricht und Honecker dies sehr wünschten). Frankreich und England dagegen, die beiden einzigen ernsthaften Konkurrenten Deutschlands in Europa, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in eine Reihe blutiger Auseinandersetzung in ihren Kolonien verwickelt, die sehr zeitaufreibend und teuer waren, Frankreich vor allem in Vietnam und Algerien, Großbritannien in Indien und im Nahen Osten, beide zusammen in Ägypten. Dies eröffnete Deutschland weitere Chancen.

Die EWG: 1952 schlossen die BRD, Frankreich, die BeNeLux-Staaten und Italien den Vertrag über die Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Montanunion genannt. Er gilt allgemein als Vorläufer für die Römischen Verträge von 1957, mit denen die EWG gegründet wurde. Dadurch wurde eine Zone ohne Handelsbarrieren geschaffen - eine weitere unheimliche Begünstigung für die deutschen Exporte. Gleichzeitig wurde das Rechtssystem des internationalen Handels stark vereinfacht. Analog zu der Abschaffung der Handelsbarrieren mit den USA brachte die Montanunion den innereuropäischen Handel in Schwung, vor allem mit Frankreich, der bis heute die Basis des deutschen Außenhandels stellt - immer noch gehen rund zwei Drittel der deutschen Exporte in die Europäische Union.

Gastarbeiter bei VW 1973
Die Gastarbeiter: Auch sie gehörten zum Wirtschaftswunder und korrelierten mit der Lohnzurückhaltung. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Arbeitskräfte schnell knapp, die boomende und damals noch recht personalintensive Wirtschaft brauchte dringend weitere. Deswegen wurden mit diversen Ländern, vor allem Spanien, Portugal, Italien und Griechenland (die Türkei folgte erst wesentlich später) Verträge abgeschlossen, die den reibungslosen Zu- und Abzug der Gastarbeiter regelten. Dadurch standen der Wirtschaft billige und willige Arbeitskräfte zur Verfügung, als sie sie benötigte und die sich später leicht wieder loswerden ließen.

Die Flüchtlinge. Sowohl die Vertriebenen aus den verlorenen deutschen Ostgebieten als auch die Flüchtlinge aus der SBZ/DDR bildeten ein großes Reservoir arbeitswilliger und (besonders im Fall der DDR-Flüchtlinge) qualifizierter Arbeitskräfte, auf das die BRD ohne vorherige Ausbildungskosten zugreifen konnte. Anfang der 1950er Jahre lebten auf dem Gebiet der BRD deutlich mehr Menschen als zu Beginn des Krieges, trotz der Kriegsverluste! Diese Bevölkerungsverdichtung und Urbanisierung erwies sich als gewaltiger Anschub für die Wirtschaft. Die überraschend reibungslose Integration der Flüchtlinge, die in Bayern etwa immerhin 25% der Gesamtbevölkerung ausmachten (!) tat ihr Übriges dazu und stellte einen Triumph staatlicher Umverteilungspolitik dar.

Der Sozialstaat: Besonders in der Zeit bis Ende 1948 gab es in Deutschland große Sympathien für ein sozialistisch orientiertes, planwirtschaftliches System, das auch die Briten favorisierten. Der Aufbau des Sozialstaats sicherte die Bedingungen der entstehenden Marktwirtschaft ab, da er eine erneute Systemkrise wie 1932 unwahrscheinlich erscheinen ließ. Dadurch waren planwirtschaftliche Elemente in Deutschland für die politische Diskussion langfristig vom Tisch. Wie auch die Sozialpartnerschaft diente der Sozialstaat als ungemein systemstabilisierend, was die Kontinuität und Sicherheit des Wirtschaftswachstums flankierend abdeckte.

Fazit

Es war folglich eine ganze Reihe von Gründen, die zu dem großen wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands in den 1950er und 1960er Jahren führte. Doch wie so oft ist der Erfolg von einst das Problem von heute. Die schlechte Binnennachfrage in Deutschland hat zu einer hohen Abhängigkeit vom Export gesorgt, wo der Boom der letzten Jahre nur aufgrund eines unglaublichen Lohndrucks möglich war. Der Fetisch Exportweltmeister, um den in Deutschland gerne wie um das Goldene Kalb getanzt wird, er fußt in der damaligen Zeit und ist integraler Bestandteil des Gründungsmythos Wirtschaftswunder. Die Dekonstruktion des Mythos, all das sei aus eigener Kraft erreicht worden, bestenfalls durch den Anschub des Marshallplans, ist wichtig, um sich der Erkenntnis zu stellen, dass die Bedingungen in der Welt wie in Deutschland heute nicht mehr dieselben sind wie anno 1950 – und dass es andere Rezepte braucht, um Wohlstand zu generieren. Die Stärkung des Binnenmarkts ist wichtig, und diese wird sich nur über Lohnsteigerungen erreichen lassen  - und zulasten einer zunehmend parasitären Exportwirtschaft.

Anmerkung: Dieser Artikel ist eine Überarbeitung des gleichnamigen Geschichtsblog-Artikels von 2010. 

1 Kommentar:

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