Adam Tooze – The Deluge. The Great War and the Remaking of Global Order 1916-1931 (Deutsch) (Hörbuch)
Auch in Kleinasien war die britische Position katastrophal. Der Konflikt mit Frankreich war hoch aggressiv, und der Versuch, das osmanische Regime zu instrumentalisieren, scheiterte und führte zu seinem endgültigen Untergang. Auch die Unterstützung der Griechen brachte nicht den erhofften Erfolg, sondern sorgte bei Smyrna einerseits für ein genozidales Massaker und andererseits für einen Beweis britischer Impotenz, falls es noch eines bedurft hätte. Tooze sieht Großbritannien in Folge der verketteten Desaster - Indien, Irland, Genua, Türkei - am Rand des Krieges, der auch die nun Deutschland und die Türkei stützende Sowjetunion einbezogen hätte. Letztlich gelang es nur mit bitteren Kompromissen und viel Gesichtsverlust, von diesem Abgrund zurückzuweichen.
Eine große Atempause gab es derweil nicht. In Kapitel 24, "Europe on the Brink", stellt Tooze die These auf, dass der Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich, der 1923 seinen Höhepunkt erreichte, die 1930er Jahre quasi in einem Mikrokosmos abbildete. Die Bereitschaft beider Seiten zur Eskalation stellte die gesamte Friedensordnung zur Disposition. Auf einmal waren die Souveränität Deutschlands und seine territoriale Integrität wieder in Frage gestellt. Die USA und Großbritannien hielten sich raus, in der Erwartung, dass es zu einem Patt kommen würde. Die Franzosen rechneten damit, ökonomisch und politisch siegreich zu enden. Poincaré behielt Recht. Im Sommer 1923 war die deutsche Lage unhaltbar.
Allerdings betont Tooze, dass die Franzosen davor zurückschreckten, Deutschland den Todesstoß zu versetzen. Die mangelnde Unterstützung für Separatismus einerseits und die innenpolitischen Gefahren für Frankreich andererseits bewogen die Regierung neben der nun erfolgenden anglo-amerikanischen Intervention (nicht zum Schutz Deutschlands, aber zur Einhegung Frankreichs) dazu, einen Ausgleich zu suchen. Es war dieser Kontext, der die Tür für die Vermittlung von Charles Dawes öffnete, denn die Reparationsfrage stand hinter allem: Großbritannien hatte bereits einen (wenngleich harschen) Zahlungsplan mit den USA verhandelt; nun schien die Möglichkeit, auch für Frankreich einen zu bekommen und damit die Spirale der Eskalation mit Deutschland zu brechen, in Reichweite.
Angesichts der Kräfteverhältnisse erscheint dieser französische Rückzug ein wenig verwunderlich; gleichwohl folgte dieser "latter day Wilsonianism" einer gewissen Logik. Vor allem der britische Politikwechsel hin zu einer eng finanzbasierten Sicht (der realwirtschaftliche Gegebenheiten weithin unbeachtet ließ), der eine isolationistische Position nach dem Desaster von 1922 ermöglichte, stellte das Reparationssystem auf eine neue und wesentlich nachhaltigere Grundlage. Die Finanzlogik zog die Außenpolitik quasi hinter sich her, machte den Wilsonischen Universalismus - der in den 1930er Jahren nur noch eine Farce sein sollte - zur realpolitischen Position, von Morgan zu Stresemann. Die Logik der Wallstreet legte Frankreichs revanchistischen Ambitionen Zügel an, beförderte Londons Rückzug in die splendid isolation, bestimmte nachhaltig die Politik der Weimarer Republik und hielt Mussolini von weiteren Abenteuern wie auf Corfu ab.
Dieser neue Status Quo wird in Kapitel 25, "The New Politics of War and Peace", stärker ausgeführt. Ausgehend von Stresemanns Nobelpreissieg zeigt Tooze, wie die Wallstreet-Kredite alle Ebenen der deutschen Wirtschaft - mit Ausnahme der bankrotten Reichsebene - fluteten. Die Hyperinflation hatte angesichts der starken industriellen Substanz dafür gesorgt, dass die finanzielle Lage abgesehen von der Reparationsbelastung besser als war als bei Frankreich und Großbritannien, die unter starken Kreditbelastungen in den USA litten. Der Vertrag von Locarno schrieb den Status Quo im Westen (!) fest. Ein neues System schien geboren.
Zwar blieben Dilemmata ungelöst. Da die Amerikaner sich partout an keinem Sicherheitssystem beteiligen wollten, andererseits aber auch die Herausbildung eines europäischen verhinderten (indem sie etwa Deutschland verboten, für Frankreich Kredite aufzunehmen) und auch die Stärkung des Völkerbunds blockierten (indem sie sich ein Veto vorbehielten, das die USA auch rechtlich auf eine Super-Staat-Stufe gestellt hätte), blieben zentrale Konflikte ungelöst. Für Großbritannien und Frankreich war eine Politik ohne Anlehnung an die USA (der Albtraum von 1916) unmöglich, aber eine Politik mit den USA genauso. Die Deutschen ihrerseits waren von vernünftigen Politikern regiert, die die Aussichtslosigkeit einer konfrontativen Politik erkannten. Stresemanns Ziel war es, Deutschland finanziell von den USA abhängig zu machen und so in der Lage zu sein, diese als Hebel gegen Frankreich und Großbritannien zu nutzen, sollte es zu einer neuen Krise kommen - quasi eine orchestrierte Neuauflage von 1923.
Indessen in China brach die imperiale Politik der Briten und Amerikaner in sich zusammen, als die nationalistische Guonmindang - unter großzügiger sowjetischer Unterstützung - große Gewinne machte und nicht bereit war, die benachteiligte rechtliche Stellung weiter hinzunehmen. Durch die Einnahme Shanghais und Nanjings kam es beinahe zu einem bewaffneten Konflikt mit den Briten, der sich aber mangels amerikanischer Unterstützung einerseits und durch geschicktes Agieren der Guonmindang andererseits nicht manifestierte. Auch für die Japaner war die Entwicklung ein Desaster; ihre Besetzung der Mandschurei brachte nicht die erhofften Dividenden, und nach dem Fall der Ultrakonservativen bekannte sich auch Japan zum liberalen Regime und versuchte, über Abrüstung und den Goldstandard einen Modus Videndi zu finden. Nicht einmal die Sowjets profitierten vom durchschlagenden Sieg der Guonmindang, als Chiang Kaitschek nach dem Tod Sun Yatsens die exponierten Kommunisten ermordete und so die (für den Moment unbestrittene) Führungsrolle an sich riss. Für Tooze zeigen die Jahre 1924-1928 deutlich die überraschende Resilienz der neuen Friedensordnung.
Das ändert sich auch nicht durch die im sechsundzwanzigsten Kapitel, "The Great Depression", denn die Anfangsjahre dieser weltumspannenden Krise zeigten laut Tooze gerade die Festigkeit des neuen Regimes: alle Länder, auch Deutschland, Italien und Japan, beugten sich dem Diktat der liberalen Weltordnung und dem Goldstandard und führten schmerzhafte Austeritätsmaßnahmen durch. Dass diese Maßnahmen die Katastrophe bedeuteten, ist mittlerweile unbestritten, aber Tooze zeigt Sympathie für die zugrundeliegende Logik der "goldenen Ketten": nicht nur verhinderten sie sozialistische Expansionspläne, die hegten auch nationalistische Aufrüstungsbestrebungen ein (ironischerweise hielt sich Mussolini selbst in den 1930er Jahren an das liberale Wirtschaftsregime und schwächte damit seine eigene Armee deutlich). Die gesamte Friedensordnung der 1920er Jahre basierte auf diesen Ideen. Die notwendige internationale Kooperation fehlte aber.
Aber ab 1931 brach das System auseinander. Der Protektionismus vor allem der USA machte es zunehmend unmöglich zu exportieren, während gleichzeitig Schulden in Dollar abzubezahlen waren. Das Ausscheren Großbritanniens aus dem Goldstandard sei ein solcher Schlag gewesen, dass es sogar den Mukden-Zwischenfall aus den Schlagzeilen verdrängte. Für die Nationalisten aller Länder bedeutete dies, dass in der Wahl zwischen dem eigenen ökonomischen Status und der Aufrechterhaltung der liberalen Ordnung ersteres Präzedenz haben würde. Ob im progressiven New Deal, in der NS-Aufrüstungsdiktatur oder in MacDonalds Großbritannien, die liberale Ordnung zerfiel. Protektionismus, eine neue Rolle des Staates und Aufrüstung (vor allem in Deutschland und Japan) waren nun das Gebot der Stunde.
Im Abschluss, "Raising the Stakes", zieht Tooze noch einmal ein Fazit. Er betont die Stärke der Demokratien, die nur durch eine beispiellose Mobilisierung totalitärer Diktaturen überhaupt gefährdet werden konnten. Das große Vorbild, den "first mover" unter den Rebellen, identifiziert er in der Sowjetunion: hier wurde erstmals der für das 20. Jahrhundert so typische Versuch eines Aufholens des Vorsprungs des Westens unter Anspannung aller Kräfte unternommen, hier der liberale Status Quo zuerst und ideologisch stringent herausgefordert. Und hier forderte er auch zuerst Opfer in Millionenhöhe. Die USA, so bilanziert Tooze abschließend, hatten Wilsons Ziel erreicht: sie waren die absolut vorherrschende Macht mit Veto-Kraft über alle anderen, doch ihr Unwille, die Verantwortung zu übernehmen und eine dauernde Friedensordnung zu erreichen, mündeten im Auftauchen der Revisionisten. Und diese waren auf Blut aus.
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In der Lektüre des Jahres 2025 fällt mir als erstes die Weitsicht des 2014 veröffentlichten Tooze auf, der hier bereits viele Themen anspricht, die erst in der folgenden Dekade an Prominenz gewinnen sollten. Ich will das nur an zwei Beispielen festmachen. Das erste ist der Rassismus Woodrow Wilsons, der nicht nur für die innenpolitische Lage der USA selbst, sondern auch für die Friedensordnung Konsequenzen haben sollte und in der breiten Debatte erst durch die #BLM-Bewegung ins Augenmerk rückte. Ein anderer ist die hervorgehobene Bedeutung Chinas, das normalerweise in Betrachtungen der Versailler Friedensordnung keine allzu große Rolle spielt (oder in denen des Ersten oder Zweiten Weltkriegs), das aber hier quasi seine eigene Gründungsgeschichte erlebt, die fundamental mit dieser Ordnung verwoben ist. Diese Verbindung zwischen Fernost und Europa deutlich zu machen (neben der wesentlich offensichtlicheren zwischen Europa und den USA) ist ein großes Verdienst dieses Buches, das allein die Lektüre lohnt.
Ein für mich interessantes Detail war Toozes negative Sicht auf die Möglichkeit einer deutschen Nichtannahme des Versailler Vertrags, etwas, das etwa Sebastian Haffner in seinen Analysen der 1970er Jahre noch eingefordert hatte. Vermutlich lag Haffner hier dem anachronistischen Irrtum auf, die glückliche Gründung der BRD aus den Besatzungszonen auf eine mögliche Besetzung und Zersplitterung Deutschlands 1919 zu übertragen. Ich halte Toozes Interpretation des Versailler Vertrags als im Grunde großzügige Friedensordnung für gerechtfertigt. Dass die deutschen Zeitgenoss*innen - ebenfalls anachronistisch - den Vergleich zu Friedensordnungen des 19. Jahrhunderts zogen, eine Tendenz, die sich bis heute fortzieht, ist deren Schuld. Toozes kontrafaktische Folie einer Zerschlagung und Besetzung Deutschlands, der das Land wesentlich knapper entgangen war als dies allgemein zugesprochen wird, war für mich sehr überzeugend und lässt die gesamte Versailler Ordnung und das auf ihr aufbauende liberale Regime in anderem Licht erscheinen.
Natürlich muss klar bleiben, dass es stets einen klaren Widerspruch zwischen liberalen Ansprüchen und dem Handeln der Akteure gibt. Tooze arbeitet diesen auch oft genug heraus. Auch wenn es für die weißen Zeitgenoss*innen selbstverständlich war, so war die Exklusion aller nicht-weißen Länder und Kulturen aus dieser Ordnung keineswegs selbstverständlich, wie sich nicht nur in dem Anspruch auf Souveränität und Eigenständigkeit in Japan und China zeigt, sondern auch in Indien, dessen Prominenz in diesem Buch sicherlich auch Toozes britischer Herkunft zu verdanken ist, aber wie China ein wichtiger Schlüssel für das Verständnis der Epoche darstellt. Nebenbei bemerkt zeigt gerade die Geschichte Indiens in dieser Zeit die "moralische Höherrangigkeit" (mein Begriff, nicht Toozes) der liberalen Mächte. Gerade die Schwäche des Empires gegen Ghandi etwa zeigt, dass trotz aller Doppelstandards und Heuchelei, trotz aller imperialistischer Gewalt keine Vergleichbarkeit zu den wirklich Bösen herrscht. An keiner Stelle begeht das britische Empire auch nur annähernd so grauenerregende Verbrechen, wie es später die totalitären Regime tun würden. Dass die Probleme, die die Briten mit Ghandi hatten, auch Probleme eines nazideutschen oder kommunistischen Indien gewesen wären, ist unvorstellbar. Sie hätten ihn einfach ermordet, und ein paar Millionen Anhäner*innen gleich mit.
Zuletzt möchte ich einen auch im Rahmen dieser Rezension aufgetauchten Kritikpunkt aufnehmen. Tooze geht von der klaren Prämisse aus (und legt diese in meinen Augen auch überzeugend dar), dass die Schaffung einer tragfähigen Sicherheitsordnung in den 1920er Jahren zu guten Teilen auf die spezifische Situation der USA zurückgeht, die nicht bereit waren, sich in irgendwelche Systeme, und seien sie noch so locker, einbinden zu lassen, und die auch jegliche ökonomischen Zugeständnisse kurzsichtig verweigerten. Die Kritik wäre hier, dass dies eine native, europäische Sicht sei: warum sollten die USA auch europäische Sicherheitsinteressen befriedigen?
Toozes implizites Argument - zumindest lese ich das so heraus, und es entspricht meiner eigenen Haltung dazu - wäre, dass dies ja auch im Interesse der USA liegen würde. Die Verweigerung selbst kleinster Zugeständnisse in der Frage der Kriegsschulden führte zur unilateralen Aufkündigung eben dieser Kriegsschulden ab 1931 und zum Bruch des zugrundeliegenden Finanzsystems. Die Verweigerung von Sicherheitsgarantien auf der anderen Seite kann man den USA sicherlich nicht grundsätzlich vorwerfen; das ist tatsächlich nicht ihre Verantwortung. Was die Kritik aber übersieht ist ein Faktor, der ironischerweise auch auf die bundesdeutsche Außenpolitik zutrifft: der isolationistische Impuls übersieht die eigene Handlungsmacht komplett und präsentiert sich gerne selbstgefällig, aber falsch als Unbeteiligten. Die USA beanspruchten aber ein Veto-Recht, das sie auch großzügig ausübten. Wer allerdings die Versuche der Europäer, eine eigene Friedensordnung zu begründen, aktiv untergräbt und unterbindet, der bürdet sich damit eine eigene Verantwortung auf, und der kamen die Amerikaner nicht nach. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollten sie ein expansiveres und insgesamt sowohl sinnvolleres als auch langfristig tragfähigeres Verständnis ihrer eigenen Interessen entwickeln - das gerade zusammenbricht, mit all den verheerenden Folgen, die das auch für die USA selbst hat.
Dies sind zumindest die Parallelen, die ich hier sehe. Aber wie immer ist die Geschichte ein Spiegel; wir sehen in ihr vor allem unsere eigene Zeit und unsere eigene Sicht der Dinge. Solange wir uns dessen und der Fehlbarkeit und Gegenwärtigkeit unserer Interpretationen stets bewusst sind, bleiben diese Auseinandersetzungen aber fruchtbar.
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