Freitag, 22. August 2025

Rezension: Matthias Waechter - Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert (Teil 1)

 

Matthias Waechter - Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert

C.H. Becks Reihe zur Geschichte des 20. Jahrhunderts hat mit Ulrich Herberts Mammutwerk zur deutschen Geschichte (hier rezensiert) einen ebenso prominenten wie lesenswerten Blickfang. Aber die Grundstruktur einer Mischung aus Quer- und Längsschnitten durch die Geschichte, die der Reihe zugrunde liegt, ist grundsätzlich ebenso erhellend wie dem Lesefluss zugänglich, so dass Matthias Waechters Eintrag in die Reihe für die Geschichte Frankreichs für mich eine Art Lackmustest des Serienkonzepts darstellt: da ich in der Geschichte der Republik nicht so sehr bewandert bin, kann ich auf wesentlich weniger Vorwissen zurückgreifen als bei Herberts Mammutwerk. Ob Waechter es für mich trotzdem verständlich machen kann? Immerhin hat er nur ein starkes Drittel des Umfangs von Herbert, aber nichtsdestotrotz ist die Fülle an Informationen, Analysen und Einordnungen und ihre große Dichte durchaus eine Herausforderung. Ich habe mich mit großer Freude an sie gemacht.

Der erste Teil,  "Republik der Widersprüche", behandelt die Zeit zwischen 1870 und 1914. Interessant ist an der Überschrift für mich bereits, dass ähnlich der Geschichte des Kaiserreichs die Widersprüchlichkeit der Zeit zwischen Moderne und Beharrung betont wird, die Deutschland und Frankreich trotz aller Unterschiede zu teilen scheinen.

Im ersten Kapitel, "Die Erschaffung einer Nation", befasst sich Waechter mit dem Paradox, dass die in der Kriegsniederlage von 1870 geborene Dritte Republik zwar eine Traditionslinie zu den Idealen der Französischen Revolution in Anspruch nahm, die Realität dem aber gar nicht entsprach. Weder war die Gleichberechtigung aller Bürger gegeben, noch war die kolportierte Einheit der Nation erreicht. Vielmehr war Frankreich in verschiedene Regionen zergliedert, die teilweise so stark unterschiedliche Dialekte hatten, dass von verschiedenen Sprachen gesprochen werden musste.

Entsprechend gingen die republikanischen Reformer, die in den 1880er Jahren gegenüber den republikfeindlichen Konservativen die Mehrheit errangen, ans Werk, diese nationale Einheit und damit die Nation schlechthin überhaupt erst zu schaffen. Sie verordneten Verwaltungsreformen, trieben die Trennung von Staat und Kirche voran (die zu einem jahrzehntelangen kalten Bürgerkrieg führte, ehe sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend im Sinne der Republik befriedet wurde) und schufen ein Schulsystem, das die "französische" Sprache und Kultur verbindlich in alle Winkel des Hexagons brachte. Der Prozess war lang und von Rückschlägen geprägt, aber das Endziel war relativ klar. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war Frankreich ein wesentlich anderes Land als 1870 und tatsächlich wesentlich geeinter und "nationaler". Auch hier liegt in meinen Augen eine klare Parallele zur deutschen Geschichte.

Das zweite Kapitel, "Ein republikanisches Imperium?", wendet sich dem französischen Kolonialreich zu. Von Beginn an lag in den republikanischen Idealen ein Widerspruch zu der Idee, ein Imperium zu erwerben (ein solches war mit Napoleon III. ja gerade erst zu Ende gegangen!). Dennoch trieb die Republik den Erwerb von Kolonien voran und gliederte sie ideologisch in das republikanische Projekt ein: in der Selbstwahrnehmung brachte Frankreich Kultur und Entwicklung und verfolgte das Fernziel, die Einwohner*innen der Kolonien zu französischen Citoyens zu erziehen, die irgendwann einmal so weit sein sollten, auch Franzosen zu sein. Wie in Frankreich selbst wurde dabei auf lokale Eigenheiten keinerlei Rücksicht genommen; das französische Einheitsprojekt sollte alles andere beseitigen.

Kapitel 3, "Eine "blockierte Gesellschaft"?", wirft unter der Fragestellung, ob das Modernisierungsprojekt nicht von gesellschaftlichen Unterschieden und Spannungen blockiert worden war, einen Blick auf die soziologische Zusammensetzung Frankreichs jener Tage. So war das Land bei allen politischen Egalitätsvorstellungen von sozialen Ungleichheiten geprägt, die den Vergleich mit Nachbarn im schlechten Sinne nicht zu schämen brauchten. Eine schmale Führungsschicht der Reichen und Mächtigen thronte über einer weitgehend armen Masse. Anders als etwa im Kaiserreich aber waren große Teile der Bevölkerung als kleine und mittlere Bauern tätig; Frankreich war gewissermaßen eine Bauernrepublik. Entsprechend verfügte das Land auch über keine Arbeiterschicht in dem Sinne; die Industrie war auf wenige Regionen konzentriert und selbst dort eher mittelständisch organisiert. Eine Arbeiterbewegung konnte so nicht entstehen.

Das größte Thema der Zeit aber war die Bevölkerungsentwicklung - beziehungsweise ihr Stagnieren. Anders als im vitalen Nachbarland Deutschland entwickelte sich die Bevölkerung nicht voran, der demographische Abstand, mit Sorge betrachtet und als elementares Sicherheitsrisiko gesehen, wuchs immer mehr. Der Arbeitskräftebedarf war nur durch Einwanderung zu decken, die wiederum von den alteingesessenen Franzosen mit großem Misstrauen beachtet wurde; die Eingewanderten waren Bürger maximal zweiter Klasse und in besonderem Maße von Ausgrenzung und wirtschaftlichen Problemen betroffen.

Das vierte Kapitel, "Frankreich um 1900", bietet den ersten Querschnitt des Bandes. Besondere Aufmerksamkeit erfährt dabei die Dreyfus-Affäre, die das Land für fast zwei Jahrzehnte beschäftigte und zum Blitzableiter des großen Rechts-Links-Gegensatzes der Republik wurde: der Antisemitismus und Antirepublikanismus der Rechten kaprizierte sich auf das Festhalten an der (längst widerlegten) Schuld des Hauptmanns und dem Schutz der "Ehre der Armee", während die republikanischen "Radikalen" eher versuchten, den Hauptmann zu rehabilitieren und im gleichen Atemzug ihre Gegner zu diskreditieren. Antisemitismus und Nationalismus erlebten um 1900 ihre unheilige Blüte und konzentrierten sich auf die Affäre (und natürlich den damit verwobenen Streit um den Laizismus).

Ein anderer Schwerpunkt von Waechters Betrachtung ist die Rolle Paris', das als Hauptstadt Frankreichs einerseits ein riesiges wirtschaftliches Bevölkerungszentrum war, als Heimat von Kultur und Wissenschaft aber auch eine bis heute bestehende Sonderrolle innerhalb der französischen Gesellschaft einnahm, wie sie etwa Berlin nie für sich in Anspruch nehmen konnte. Paris und Frankreich waren nicht eins, auch wenn man das in Paris naturgemäß anders sah, eine Spannung, die sich wie ein Roter Faden durch die französische Geschichte zieht und bereits in der Revolution 1789 und dem Aufstand der Kommune 1870/71 ihre Vorläufer hat.

Der zweite Teil, "Gewonnener Krieg, verlorener Frieden", behandelt die Zeit zwischen 1914 und 1940. Der Erste Weltkrieg ist natürlich ein einschneidender Punkt in der französischen Geschichte, der nur vordergründig nicht einen Bruch wie in Deutschland darstellt.

Eben dieser wird in Kapitel 5, "Der Große Krieg", behandelt. Waechter geht es dabei nicht um eine umfassende Schilderung des Kriegsverlaufs, sondern vor allem um seine Genese und Entwicklung. In der Genese geht es vor allem die Entwicklung des französischen Allianzsystems, das sich in den Jahren vor dem Krieg entscheidend von einem Defensivbündnis hin zu einer kollektiven Garantie verwandelte, die auch kriegerische Entwicklungen auf dem Balkan einschloss und damit den europäischen Krieg ebenso garantieren half wie der spätere deutsche Blankoscheck. Die eigentliche Kriegsentwicklung legt Wert auf die "Union Sacrée", die französische Version des Burgfriedens, und die ebenfalls wie in Deutschland ab 1917 betriebene Abschaffung des Parlamentarismus zugunsten einer autoritären Regierung, um den Krieg zu Ende zu bringen. Dies war nach der "Hölle von Verdun" nötig geworden, da die Meutereien von 1917 einen Bruch in der "Union Sacrée" und sich ausbreitenden Defätismus belegten, dem Clemenceau durch eine Radikalisierung der Kriegsführung entgegenwirkte.

Der folgende Versailler Vertrag wird in Kapitel 6, "Der prekäre Frieden", näher beleuchtet. Der Ausgang des Krieges war für das Land, trotz des Sieges, katastrophal. Gewaltige Verluste und Zerstörungen bedeuteten die Notwendigkeit gewaltiger Ausgaben für den Wiederaufbau, die das Land aus Reparationen zu stemmen hoffte. Genau dies erwies sich als unmöglich, auch nach der Besetzung des Ruhrgebiets, die es im Endeffekt zwang, seine Finanzpolitik unabhängig von den Reparationszahlungen zu gestalten und Steuererhöhungen durchzusetzen, um die Kriegskosten zu decken (die es anders als Deutschland nicht weginflationieren hatte können). Die französischen Sicherheitsinteressen konnten durch die "Enttäuschung von Versailles" auch nicht gedeckt werden; die folgenden Bündnisse mit den neuen osteuropäischen Staaten waren ein unvollständiger Ersatz. Letztlich basierte Frankreichs Sicherheit darauf, dass der Völkerbund wie versprochen funktionierte, was aber wegen des amerikanischen Rückzugs in den Isolationismus, dem bald der britische folgte, praktisch unmöglich war. Die Sicherheitsgarantien von Versailles waren damit bereits 1920 hinfällig, der Versuch, Deutschland alleine niederzuhalten, scheiterte letztlich 1923. Der Verzicht darauf, im Friedensvertrag wesentlich aggressivere Ziele durchzusetzen, schuf daher neue Probleme.

Zudem gab es starke innenpolitische Spannungen. Die französische Rechte instrumentalisierte die "Union Sacrée" in eine neue, aggressiv-abgrenzende Bedeutung, nach der diese für die politische Rechte galt, die "wahre Franzosen" gegen die Republikaner und Sozialisten stellte. Letztere waren durch die Geschehnisse in Russland exponiert, die einerseits (ebenfalls wie in Deutschland) die Spaltung der Linken in Kommunisten und Sozialisten bedeutete, andererseits aber die Linke als totalitäres Schreckensbild inszenierfähig machte. Auch außenpolitisch war dies wegen des Verhältnisses zur Sowjetunion bedeutsam, die man natürlich gerne in die Sicherheitsarchitektur gegen Deutschland integriert hätte. Zudem forderten die Arbeiter endlich die gesellschaftliche Gleichberechtigung ein, die ihnen in der Republik bisher verwehrt gewesen war. In einer Serie aggressiver Streiks legten sie das Land lahm, um grundsätzliche Zugeständnisse der Arbeitgeber und der staatlichen Sozialgesetzgebung zu erzwingen. Wie in Deutschland auch waren ihre Gewinne dabei stets prekär und schufen eine aggressive Abwehrreaktion der radikalen Rechten, die im sich entwickelnden rechtsextremistischen Milieus und seinem Versprechen auf "Einheit" anschlussfähig war.

Zuletzt erlebte das Land einen "Höhepunkt des Imperialismus", da es seine Kolonien um die Mandatsgebiete der Versailler Friedensordnung erweitern konnte und nun mehr Kolonialgebiete als je zuvor beherrschte. Gleichzeitig war der Anspruch, diese Gebiete zu entwickeln, nun auch durch die völkerbundliche Mandatierung vorgegeben. Die zunehmende Kluft zwischen diesem Anspruch und der kolonialen Praxis würde sich noch schwerwiegend auswirken.

Der zweite Querschnitt in Kapitel 7, "Frankreich um 1926", wirft auf einen Blick auf die "verrückten Jahre", die "années folles", wie man die "Goldenen Zwanziger" in Frankreich nennt. Waechter betrachtet zuerst die Erinnerung an den Großen Krieg, der durch die Veteranenverbände, denen teilweise bis zu 80% aller Veteranen angehörten, geprägt war und einen komplett anderen Verlauf nahm als in Deutschland, wo die Verbände wie der "Stahlhelm" zu Vorfeldorganisationen des Faschismus und Nationalsozialismus wurden. In Frankreich war die Grundstimmung pazifistisch; der Krieg wurde als furchtbare Verschwendung gesehen, deren Wiederholung es unbedingt zu verhindern galt. Das zeigte sich auch an den Kriegsdenkmälern, die pointiert nicht den Sieg feierten, sondern der Toten als Opfer einer Katastrophe gedachten. 

Weiter geht es in Teil 2. 

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