Mittwoch, 3. September 2025

Rezension: Matthias Waechter - Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert (Teil 2)

 

Teil 1 hier. 

Matthias Waechter - Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert

Das Land verschleppte zudem weiterhin den wirtschaftlichen Strukturwechsel. Die großen Konzerne bildeten Kartelle, um Konkurrenz auszuschließen und so international konkurrenzfähig zu bleiben, während die kleingewerbliche und agrarische Struktur der Wirtschaft sich zäh hielt. Der Wertverlust des Franc gegenüber Dollar und Pfund konnte nur durch einen Währungsschnitt erreicht werden, der unter der Schirmherrschaft des Kriegshelden Poincaré von der Bevölkerung trotz der riesigen Verluste auch akzeptiert wurde (man stelle sich vor, die deutsche Rechte hätte sich so hinter die unpopulären wirtschaftlichen Maßnahmen gestellt).

Paris indessen blieb das kulturelle Zentrum des Landes, auch mit der neu entstehenden Filmindustrie. Hier entstand auch ein fruchtbarer Dialog mit der angloamerikanischen Kunst, der eine beeindruckende kosmopolitische Offenheit der französischen Szene belegte, die dazu führte, dass mehrere schwarze Künstler*innen, alle voran Josephine Baker, in Frankreich ihre Wahlheimat suchten.

Kapitel 8, "Die Krise der 1930er Jahre", befasst sich mit jener merkwürdigen Krisenzeit in den 1930er Jahren, als das Land zwar anders als die meisten anderen Länder des Westens nicht von einer kompletten Rezession betroffen war, aber in einer langen Stagnation steckte, aus der es kein Entkommen zu geben schien. Die in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre stark gestiegenen Exporte brachen fast vollständig ein und konnten durch die schwache Binnennachfrage nicht kompensiert werden. Die Arbeitslosigkeit wurde auch niedrig gehalten, indem man ausländische Arbeiter*innen rücksichtslos auswies.

Weiterhin jedoch konnte, trotz des Erstarkens rechtsradikaler außerparlamentarischer Verbände wie der Feuerkreuzler, keine faschistische Bewegung in Frankreich Fuß fassen. Waechter begründet das vor allem mit dem tief verankerten Pazifismus der Franzosen, der die kriegsbejahenden Elemente des Faschismus für das Land unattraktiv machte. Innenpolitisch gab es einen Wandel von den Rechtsregierungen zwischen Konservativen und "Radikalen" hin zu einer Linksregierung, bei der die "Radikalen" mit den Sozialisten und Kommunisten, die anders als in Deutschland sich der Zusammenarbeit nicht verweigerten, zusammenschlossen. Diese "Volksfront" kam 1936 an die Macht und führte ein beispiellos gewaltiges innenpolitisches Reformprogramm durch, das dennoch hinter den Erwartungen zurückblieb. Als Léon Blums Regierung gegen Streikende vorgehen musste, brach auch die Einheit der Linken wieder. Gleichzeitig wuchs die französische extreme Rechte immer mehr. Gewalt auf den Straßen zwischen Kommunisten und Faschisten nahm zu, und die Aufrechterhaltung der Ordnung durch die Volksfrontregierung, die auch Opfer auf der politischen Linken forderte, führte zum Bruch des ersten linken Kabinetts der französischen Geschichte.

Außenpolitisch war die Zeit vom Versuch der Integration Deutschlands in die Friedensordnung und einem gemeinsamen Auskommen geprägt. Doch als das Land unter Hitlers Führung den Versailler Vertrag zu revidieren suchte, blieb eine eindeutige Antwort Frankreichs aus. Zu kriegsmüde war die Bevölkerung, zu pazifistisch eingestellt: eine Intervention stand politisch außer Frage. Die Appeasement-Politik fand breite Unterstützung nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Frankreich, und so war das Land auf den Krieg mit Deutschland beklagenswert schlecht vorbereitet, auch wenn ab dem Frühjahr 1939 eine Entschlossenheit zur Verteidigung entstand, die Hitler im Sommer 1939 überraschen sollte (und bald wieder erodieren).

Der dritte Teil, "Vom Zusammenbruch zur Dekolonisierung", behandelt die Jahre 1940 bis 1962. Dass 1940 einen schwerwiegenden Einschnitt in die französische Geschichte bedeutete, dürfte klar sein. Der "Waffenstillstand" - eigentlich eine Kapitulation - läutete das Ende der Republik ein.

In Kapitel 9, "Die zerstörte Einheit", zeigt Waechter auf, wie der Zusammenbruch durch die Krise der 1930er Jahre einerseits, aber auch durch die zermürbende und die Moral völlig erodierende Untätigkeit des "Droles de Guerre" (Sitzkrieg) entstand und die Einheit des Landes sowohl territorial als auch gesellschaftlich und politisch bedeutete. Die Aufteilung in Besatzungszonen zerstörte die territoriale Einheit, aber die Einsetzung Pétains als "Held von Verdun" als Diktator auf Zeit erwies sich als, wenngleich weithin gefeierter, Fehlgriff. Die Abschaffung der Republik war damals selbst unter "Radikalen" mehrheitsfähig, doch Pétain erwies sich als in seiner Kollaboration viel zu weitgehend und bezüglich Deutschlands Chancen zu defätistisch. Die Rechten errichteten den antirepublikanischen, xenophoben und antisemitischen Staat, den sie sich schon lange gewünscht hatten, doch entstand unter de Gaulle in London ein Gegenzentrum, das Waechter von drei Hauptstädten reden lässt: das kollaborierende Vichy, das widerständige London und das besetzte Paris dazwischen, das auch die Trennlinien in der Bevölkerung verkörpert, die in den folgenden Jahren deutlich werden würden.

Vichy war eine merkwürdige Konstruktion. Nicht vollständig faschistische Diktatur, mit einem beinahe entpolitisierten Pétain darüber schwebend, vollständig bereit zur Kollaboration und rettungslos in die NS-Verbrechen verstrickt, von der Bevölkerung aber getragen. Die Politiken Vichys selbst waren widersprüchlich und teils anachronistisch, gerade auf wirtschaftlichem Gebiet. In London indessen versuchte de Gaulle, sein "freies Frankreich" als legitime Regierung zu installieren, vor allem mit der Zielsetzung, zum Anführer aller Widerstandsgruppen in Frankreich zu werden. Und in Paris zeigte sich das Besatzungsregime mit einer merkwürdigen Mischung aus Zurückhaltung der Deutschen, die mit extrem dünner Personaldecke operierten, und bereitwilliger Kooperation der französischen Verwaltung, ohne die die Besatzung gar nicht möglich gewesen wäre.

Kapitel 10, "Frankreich um 1942", baut diese Aspekte im nächsten Querschnitt weiter aus. In diesem Jahr intensivierte sich der Widerstand (auch durch den durch den deutschen Überfall auf die Sowjetunion induzierten Strategiewechsel der Kommunisten, die auf Weisung Moskaus ihre Kollaboration einstellten und in den offenen Widerstand wechselten, der soweit ging, dass "Widerstand" und "Kommunisten" praktisch synonym wurde), während das Vichy-Regime in eine Legitimationskrise geriet, aus der es sich nicht erholen würde. Die intensivierende Judenverfolgung einerseits (die ohne die Kollaboration nicht möglich gewesen wäre) und die militärischen Niederlagen in Afrika andererseits bildeten den Hintergrund der Besetzung ganz Frankreichs im November des Jahres.

De Gaulle selbst wurde durch militärische Fehlschläge vor allem in Nordafrika seinerseits isoliert und konnte nur durch die zähe Einigung der disparaten französischen Widerstandsgruppen unter seiner Schirmherrschaft - stark unterstützt durch die zunehmend repressive deutsche Politik - seine Exilregierung wieder als Player etablieren. Vichy-Überlaufer wie Darlan und Giraud verkomplizierten das Bild das Bild noch zusätzlich. Auch die Kooperation Frankreichs bei der Verfolgung der Juden findet ihre Würdigung und stellt sicher kein Ruhmesblatt für das Land dar. Waechter schließt das Kapitel mit einigen biografischen Skizzen von Widerständlern wie Stéphane Hessel oder Kollaborateurinnen wie Coco Chanel, die die Bandbreite französischen Verhaltens jener Zeit offenlegen und den späteren Résistance-Mythos Lügen strafen.

Kapitel 11, "Der schwierige Aufbau einer neuen Ordnung", setzt mit der Befreiung Frankreichs 1944 ein. Waechter stellt fest, dass die Franzosen im Großen und Ganzen politisch indifferent waren und weder der einen noch der anderen Seite sonderlich zugeneigt waren, was er auch mit den Härten des Besatzungsalltags erklärt. Innerhalb Frankreichs spricht er allerdings durch die Gründung der faschistischen "Milice", die mit brutaler Gewalt gegen die Widerstandsgruppen vorging, von einem Bürgerkrieg. De Gaulle und seinen Verbündeten gelang es in jenen Tagen, den Mythos der "Selbstbefreiung" Frankreichs zu etablieren, der für die Legitimität der neuen Ordnung so grundlegend sein sollte. Gleichzeitig sabotierte de Gaulle aber das Entstehen einer "Résistance"-Partei, da er die vielen Kollaborateure einbinden wollte. Stattdessen konzentrierte er seine Energie auf die Schaffung einer neuen, exekutivlastigen Verfassung mit ihm an der Spitze. Dies scheiterte; die Vierte Republik war erneut mit einer starken Legislative ausgestattet.

Indessen änderte sich die wirtschaftliche Verfassung deutlich. Gewerkschafts- und Streikrecht wurden massiv ausgebaut und auch angesichts der schlechten Wirtschaftslage direkt genutzt. Der französische Staat mischte sich wesentlich stärker ins Wirtschaftsleben ein als in den anderen westlichen Ländern, wenngleich das französische Planen wenig mit dem realsozialistischen gemein hatte. Eine treibende wirtschaftspolitische Kraft war Jean Monet, der nicht nur diese Planung aufbaute, sondern auch gleichzeitig eine strategische Modernisierungsvision verfolgte, die in einer engen wirtschaftspolitischen Anbindung Frankreichs an die USA bestand, was gleichzeitig die Marktwirtschaft stärkte und eine fruchtbare Synthese ergab.

Das Herzstück von Monets Wirken aber war die EGKS, die gleichzeitig französische Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen befriedigen sollte und der unrealistischen Vision der Gaullisten von Frankreich als einer unabhängigen "dritten Kraft" im Weltsystem diametral gegenüberstand. Der Wahlsieg der Gaullisten 1951, die sich in Fundamentalopposition mit den Kommunisten verbanden, schon allein, weil sie eine Auflösung des französischen Empires befürchteten, verhinderte den Integrationsschritt der EVG; die Gründung der EWG und Euratoms konnte er gleichwohl nicht verhindern, womit der europäische Einigungsprozess zwar gebremst und verrechtlicht, aber nicht aufgehalten worden war. Ohnehin war das drängendste Problem der Krieg in Algerien und Indochina, wo das Kolonialreich - von der französischen Öffentlichkeit weitgehend desinteressiert ignoriert - zu zerbröseln begann.

Kapitel 12, "Die Auflösung des französischen Empires", befasst sich nach einer schnellen Abhandlung des sowohl politisch als auch, entscheidender, militärisch verlorenen Indochinakriegs vor allem mit dem französischen Afrika, und hier vor allem Algerien. Während Frankreich in zahlreichen Ländern blutig die Nationalbewegungen unterdrückte und so oft frankreichfreundliche Diktatoren in Stellung bringen konnte, misslang das neben Indochina auch in Algerien. Die Kolonie hatte wegen der französischen Siedler*innen eine Sonderstellung im Kolonialreich inne. Während die FLN mit terroristischen Methoden gegen die Kolonialmacht vorging und dabei auch einen inneralgerischen Bürgerkrieg auslöste, der zahllose Opfer forderte, radikalisierte sich die französische Armee immer mehr in zahlreichen Gewaltorgien gegen die algerische Bevölkerung, die das Land neben der völlig fehlgeschlagenen Suez-Besetzung internationale Unterstützung kosteten und den Krieg zunehmend unhaltbar machten.

In der französischen Bevölkerung polarisierte er ähnlich wie die Dreyfus-Affäre; auf der einen Seite die Konservativen, das Militär und die Justiz, die offen die Folter und Bluttaten unterstützten, auf der anderen Seite die Linke, die die französische Kriegsführung verurteilte und für die Unabhängigkeit eintrat (und oft genug den Terror der FNL ignorierte oder relativierte). Zwischen den Stühlen saßen Menschen wie Albert Camus, die weder der einen noch der anderen Seite zuneigten. 1968 würde die antikolonial geschulte Linke ihren großen Moment haben.

Der Algerienkonflikt indessen führte zum Ende der Vierten Republik. Der versuchte Putsch vierer Generäle, an dessen Spitze sich de Gaulle setzte, um die fünfte Republik ins Leben zu rufen, führte einerseits zu einer Intensivierung des Krieges und andererseits zu seiner langsamen Abwicklung. De Gaulle wandte sich nach seiner Machtübernahme gegen die Militärs und Siedelnden und suchte eine Verhandlungslösung mit dem FNL, für den das Land vorher befriedet werden sollte. Beim Militär entstand so die Dolchstoßlegende vom militärischen Sieg, der politisch verschenkt worden war, und führte zur Gründung der Terrororganisation OAS, die sowohl in Algerien als auch Frankreich Bluttaten verübte. Die Siedelnden wurden nach Frankreich evakuiert, das gleichzeitig aus rassistischen Motiven den algerischen Hilfstruppen die Evakuierung verwehrte - und zehntausende dem folgenden Rachemassaker der FNL überließ.

Weiter geht es in Teil 3.

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