Ein neues Buch über die Nazizeit ist erschienen. Das wäre erst einmal wenig erwähnenswert, wenn es sich beim Autor nicht um Götz Aly handeln würde, einen der profiliertesten Holocaustforschenden der Bundesrepublik, mit einer seit den frühen 1980er Jahren währenden Karriere auf dem Feld. Er gehörte zu einer neuen Generation von Historiker*innen, die sich von den bis dato herrschenden strukturalisierten Totalitarismusthesen lösten und somit die erstarrte Sichtweise des Holocaust als ein von oben verordnetes und gelenktes Werk darstellten und damit einerseits die Deutschen grosso modo entlasteten als auch andererseits dafür sorgten, dass der Massenmord letztlich eine wenig erforschte Fußnote in der deutschen Geschichtsschreibung war. Aly war ein Spezialist dafür, mit breiter Quellenforschung aus den unteren Ebenen der Tötungsmaschinerie ein differenzierteres Bild zu entwerfen helfen, das unser Verständnis des Holocausts bis heute prägt. Sein Werk "Endlösung" (1995) bildete die Zusammenfassung seiner Erkenntnisse.
Aly arbeitete in seiner Forschung heraus, wie die "mittleren Eliten" den Holocaust maßgeblich vorantrieben, indem sich eine grundsätzliche rationale Verwaltungslogik radikalisierte und verselbstständigte. Die vorhergehende "Aktion T4", die sogenannten Euthanasiemorde, zog er als Legitimations- und Abstumpfungsmaschinerie in seine Betrachtung mit ein und verwob den Holocaust damit mit anderen Elementen der NS-Herrschaft, anstatt ihn als losgelöstes Element sui generis stehen zu lassen, wie das zu lange geschehen war. Natürlich war er in diesem Trend keinesfalls allein; die Geschichtswissenschaft in Deutschland war mit diesen Forschungsschwerpunkten eher ein Nachzügler der internationalen Holocaustforschung, konnte dafür jedoch mit Verve die deutschen Standpunkte aufarbeiten. Alys Arbeiten sind aber ein essenzieller Bestandteil dieser Forschung; seine Rolle auf diesem Feld ist unumstritten und haben ihm auch das Bundesverdienstkreuz eingebracht.
Einem breiten Publikum ist er aber vor allem durch seine beiden Werke "Hitlers Volksstaat" (2005) und "1968: Unser Kampf. Ein irritierter Blick zurück" (2009) bekannt geworden. In ersterem stellte er die These auf, dass der Holocaust vor allem materielle Ursachen gehabt habe, weil das Dritte Reich nicht nur einen "Massenmord", sondern einen "Massenraubmord" begangen und damit seinen Wohlfahrtsstaat finanziert habe, der ihm wiederum erlaubt habe, die Zustimmung der Bevölkerung zu erkaufen und den Krieg mit einer relativ ruhigen Heimatfront zu führen. Wie bereits in seiner vorherigen Forschung baute er seine Argumentation auf einer breiten, bis dato wenig erschlossenen Quellenbasis aus und konnte etwa die Bedeutung von Feldpostsendungen (die letztlich auf der Ausplünderung der besetzten Gebiete beruhten) für die Versorgung der Bevölkerung nachweisen.
In letzterem machte er Parallelen der Ideologie und dem Wesen der Studierendenbewegung von 1968 mit dem Nationalsozialismus aus. Wurde der "Volksstaat" zwar ob seiner Zuspitzungen kritisch, aber ernsthaft von der Forschung rezipiert, so wurde "1968" schlicht zerrissen - wissenschaftlich ohne Anspruch, auf Krawall und Provokation gebürstet und damit den 1968ern wesentlich näher, als dem zum Konservativen geläuterten Ex-Linken Götz Aly Recht sein konnte. Die Kritiken legen Zeugnis davon ab, wie tief Aly mit diesem Buch gefallen war, musste er, der seinen Namen mit präziser Quellenforschung und einem Zugriff auf Quellenarchive des (vor allem osteuropäischen) Auslands gemacht hatte, sich vorwerfen lassen, keine Quellenkritik betrieben, den internationalen Kontext weitgehend ignoriert und zudem tendenziös gearbeitet zu haben. Diese Tendenz setzte sich, wenngleich weniger prononciert, auch in "Warum die Deutschen? Warum die Juden?" (2011) fort.
Beide Werke passen in die Stimmung der 2000er Jahre und nahmen zentrale politische, weniger geschichtswissenschaftliche, Diskurse auf. Sie gehören daher auch nur teilweise wie "Endlösung" in den Kontext der geschichtswissenschaftlichen Forschungsdiskurse, auch wenn "Volksstaat" zurecht bis heute als ein für die Holocaustforschung bedeutendes Werk gilt. Sie erinnern eher an den Historikerstreit in den 1980er Jahren, der mit steilen, dafür umso energischer vertretenen Thesen aufwartete. Aly kann weder der Versuchung zur Provokation widerstehen (ein "owning the libs", quasi), noch der Verquickung geschichtswissenschaftlicher Thesen mit tagespolitischen Auseinandersetzungen.
Es ist daher instruktiv, etwas tiefer auf die Rezeption des "Volksstaats" zu blicken ("1968" ist völlig indiskutabel). Mark Spoehrer fasst seine vier Thesen wie folgt zusammen: "1. Der Holocaust war "der konsequenteste Massenraubmord der modernen Geschichte" (S. 318), der dazu diente, den NS-Staat, seine Volksgenossen und ausländische Kollaborateure zu bereichern. 2. Die Ausbeutungspolitik gegenüber dem Ausland führte dazu, dass es weit mehr zur Finanzierung des Krieges beitrug als das Deutsche Reich selbst. 3. Innerhalb des Deutschen Reichs bewirkte eine gezielte Umverteilungspolitik eine Entlastung der unteren Schichten zu Lasten der Wohlhabenden, wodurch sich das Regime die Zustimmung der Mehrheit des deutschen Volkes erkaufte. 4. Die aggressive Dynamik des Nationalsozialismus entstand aus einem sozialpolitischen Versprechen ("Volksstaat", "nationaler Sozialismus"), das allenfalls bei einem Endsieg (auf dem europäischen Kontinent) finanziell einlösbar gewesen wäre."
Die Thesen 1 und 4 sind diejenigen, die in der Geschichtswissenschaft unumstritten sind und teils bereits vorher bekannt, aber durch Aly systematisiert und in einen größeren Kontext eingebettet worden waren. Das Problem waren die Thesen 2 und 3, die beide bereits kurz nach Erscheinen nachdrücklich widerlegt werden konnten. Interessant ist an dieser Frage weniger warum (dafür sei auf die am Ende des Artikels verlinkten Besprechungen verwiesen), sondern sie sich überhaupt in Alys Buch fanden. Beide Thesen sind deutliche Zuspitzungen, die in diesem Ausmaß nicht haltbar sind - und für Alys Forschung so gar nicht relevant. Er hätte problemlos mit seinen Erkenntnissen von der Bedeutung des "Massenraubmords" ein Buch schreiben können, das die wissenschaftliche Forschung bereichert hätte. Nur wäre das mit Sicherheit nicht so breit rezipiert worden und hätte nicht die Zuspitzung zur griffigen These des "Volksstaats" ergeben. Stattdessen bediente er sich effektiv unterschwellig eines Nazivergleichs und einer Anknüpfung an tagespolitische Debatten, ein Vorgehen, das mit "1968" völlig unverhohlen daherkommen würde.
Diese Freude an der Provokation und dem Anschluss an tagespolitische Auseinandersetzungen schadet allerdings der wissenschaftlichen Arbeit (eine Dynamik, die sein Antipode Adam Tooze, der der deutschen Öffentlichkeit 2005 durch den Nachweis von Alys Fehlern erstmals auffiel, ebenfalls kennen dürfte - oder Hedwig Richter, der die Kunst der Zuspitzung auch nicht fremd ist). Es gibt durchaus einen Grund, warum die allermeisten Historiker*innen aus diesen Debatten fernhalten und deswegen auf solche Argumentationskünste verzichten.
Das alles war eine lange Darstellung von Götz Alys Werdegang. Ich komme überhaupt nur darauf, weil sein neues Buch "Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933-1945" dieselben Fehler wiederholt. Ich möchte das exemplarisch an seinem Interview mit Andreas Kilb in der FAZ („Nur der Krieg rettete Hitlers Regime vor der Zahlungsunfähigkeit“) aufzeigen. Götz Aly erklärt im FAZ-Gespräch, das NS-Regime habe von Beginn an auf massive Verschuldung gesetzt und die Veröffentlichung des Reichshaushalts ab 1934 eingestellt; bei Kriegsbeginn sei Deutschland faktisch zahlungsunfähig gewesen, „gerettet“ habe das Regime nur der Krieg. Aly betont, die „Volksgemeinschaft“ sei als Inklusion der Mehrheit stets mit der Exklusion und Ausplünderung der Juden und anderer Gruppen zusammengedacht worden; Sozialleistungen wie Rentenerhöhungen 1941 seien u. a. durch Zwangsarbeiterabgaben und die Enteignung von Juden finanziert worden. Er führt aus, der NS-Staat habe ein Schneeballsystem betrieben: steigende Ausgaben, verdeckte Inflation, erzwungene Staatsanleihen, systematische Raubpolitik (etwa 1938) und Devisenzufuhr durch Annexionen; ohne Krieg wäre der Staatsbankrott unvermeidlich gewesen. Zugleich hebt er hervor, dass Antisemitismus in aufstiegsorientierten Milieus andockfähig gewesen sei und die Entrechtung schrittweise „normalisiert“ worden sei—von Berufsverboten 1933 über Pogrome 1938 bis zur Vernichtungspolitik im Krieg. Aly schildert, wie das Regime die Bevölkerung materiell und psychologisch mitschuldig gemacht habe (etwa durch Versteigerungen von Judenbesitz) und wie die Massengewalt im Osten 1941/42 die Radikalisierung bis zum Holocaust begünstigt habe. Der Mord an Behinderten („Euthanasie“) habe als innerdeutsches Lernfeld gedient; aus der geringen Gegenwehr habe die Führung den Schluss gezogen, weiterzugehen. Ökonomische Zweckrationalität—Nahrungsmittel-, Platz- und Versorgungslogik—habe den Mord flankiert, primärer Treiber sei jedoch der Antisemitismus gewesen. Abschließend warnt Aly, die Dynamiken moderner Massenmobilisierung erzeugten immer wieder neue Verteilungskonflikte; politische Kunst müsse darin bestehen, solche Spannungen zu dämpfen—statt sie, wie im NS, durch Raub, Krieg und Terror zu „lösen“.
Mit diesen Thesen ist Aly wieder wesentlich näher am "Volksstaat" als an "1968", so viel ist auf jeden Fall positiv zu sagen. Gleichzeitig aber achtet er zwar darauf, die Lektionen aus der Debatte um seine bisherigen Werke homöopathisch mit einfließen zu lassen, kann aber gleichzeitig der Versuchung nicht widerstehen, in zuspitzender Weise die tagespolitischen Auseinandersetzungen durch implizite NS-Vergleiche zu untermauern.
Auffällig finde ich etwa, wie stark der die Rolle des ideologischen Antisemitismus betont. Dem "Volksstaat" wurde immer wieder vorgeworfen, dass es politökonomische Motive zu sehr in den Vordergrund stellen und demgegenüber die Bedeutung des nationalsozialistischen Judenhasses relativieren würde; diesem Vorwurf entgeht Aly hier klar. Nachdem seine These des "Volkstaats", die unteren Schichten seien quasi auf Kosten der Oberschicht und des besetzten Auslands bei Laune gehalten wurden, widerlegt worden waren, verlegt er diese These nun schlicht auf die staatliche Finanzierung und bleibt damit gleichzeitig seinen grundsätzlichen Argumentationsmustern treu.
Allerdings zeigt sich auch hier eine stärkere Parallele zum "Volksstaat" als zu "1968", weil Aly grundsätzlich korrekte Einschätzungen und Erkenntnisse aneinanderreiht. Das Problem ist kein einzelner Punkt. Der NS-Staat war überschuldet, er raubte die Finanzmittel der eigenen Bevölkerung, er finanzierte sich als Schneeballsystem, er raubte die Juden (und übrigens auch die österreichischen und tschechischen Staatsfinanzen) zur Finanzierung der Aufrüstung aus und stand Mitte 1939 kurz vor dem Staatsbankrott, der durch den Krieg weiter verschleppt wurde. Das alles ist in der Forschung auch unstrittig; Aly betritt hier, anders als noch beim "Volksstaat", kein Neuland.
Stattdessen, und das ist meine zentrale Kritik, fügt er hinlänglich bekannte Elemente der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik (wenn man sie denn überhaupt so nennen möchte) in etwas tendenziöser Weise zusammen, um so den Lesenden jene viel zu weitreichenden Schlussfolgerungen zu überlassen, die er aus gutem Grund nicht ausspricht: dass der Holocaust und der Zweite Weltkrieg letztlich aus der Schuldenpolitik des Dritten Reichs folgten. Diese tagespolitische Analogieziehung von "Schulden = Weg ins Böse" ist ein Problem, aber die Kausallogik selbst ist auch nicht sonderlich tragfähig: die spezifischen Schritte von Ausbeutung, Aufrüstung und Eskalation mögen durchaus von ökonomischen Imperativen mitbestimmt worden sein. Aber die Entscheidung zum Krieg selbst ist keine, die aus der Staatsverschuldung resultierte. Sie war in das Hitler-Regime von Beginn an eingepreist, wie die Forschung nun wahrlich erschöpfend dargelegt hat.
Es ist diese Neigung zur Zuspitzung, die an und für sich wertvolle Mosaiksteine der Erkenntnis (wie etwa die Rolle der Staatsfinanzierung im Dritten Reich) übersteigert und so dafür sorgt, dass man in Besprechungen zu Alys jüngeren Forschungen immer Variationen des Satzes "er wirft relevante Fragen auf, an denen die künftige Forschung nicht vorbeikommen wird, aber die zugespitzte These ist nicht haltbar" findet. Das allerdings ist immer der Preis, den Forschende entrichten müssen, wenn sie prominent im Diskurs vorkommen. Ich hatte bereits Hedwig Richter als Beispiel erwähnt, deren Thesen der Demokratie als "deutsche Affäre" einen ähnlichen Prozess durchmachten. Auch Christopher Clarke passt mit seinen "Schlafwandlern" in dieses Bild. Die tagespolitische Färbung dieser Debatten erkennt man übrigens durchaus auch an den Orten, an denen sie geführt werden: nicht umsonst finden sich Clarke und Aly durch die FAZ popularisiert, während die taz ihren Kritiker*innen eine Bühne bietet.
Was also bleibt? Eigentlich nur eins. Aly wirft relevante Fragen auf, an denen die künftige Forschung nicht vorbeikommen wird, aber die zugespitzte These ist nicht haltbar.
Links:
- Ausführliche Rezension von "Hitlers Volksstaat" von Mark Spoehrer.
- Kritik von "Hitlers Volksstaat" von Adam Tooze, inklusive seiner Replik auf Alys Rechtfertigung.
- Rezension von "1968" von Rudolf Walther.
- Rezension von "1968" von Stefan Reinecke.
- Ausführliche Rezension von "1968" bei Literaturkritik.de.
- Rezension von "Warum die Deutschen? Warum die Juden?" von Ulrich Herbert.
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