Mittwoch, 3. November 2010

Vom Volk als historischer Größe

Von Stefan Sasse

Akropolis in Athen
Besonders in populärwissenschaftlichen Darstellungen findet sich sehr häufig "das Volk" als handelnder Akteur. Das Volk zerreißt den Lutellus-Frieden mit Karthago, das Volk führt die französische Revolution durch, das Volk steht 1848 in Deutschland auf, das Volk bringt die Berliner Mauer zum Einsturz. Dabei ist "das Volk" häufig nur eine Chiffre, die hauptsächlich zur Wertung benutzt wird. Es ist sicher kein Zufall, dass die Kategorie "das Volk" spätestens mit dem Untergang des Römischen Reichs bis praktisch zur Französischen Revolution in der Versenkung verschwindet. Zeichnen wir den Weg nach, den es angeblich in der Geschichte geht und demaskieren den Mythos vom Volk, das angeblich handelt, wann immer es dem Historiker gefällt. 

Erstmals taucht das Volk meist in Beschreibungen des alten Athen auf. Hier konstituiert es sich in der Demokratie, stimmt in der Volksabstimmung ab und bestimmt seine eigenen Geschicke. In einem häufigen Zirkelschluss muss das schon alleine deswegen so sein, weil es ja in einer "Demokratie" lebt - und das heißt übersetzt bekanntlich "Volksherrschaft". Tatsächlich ist bis heute nicht vollständig klar, wie das athenische Demokratiemodell in der Praxis funktioniert hat und wer in der Versammlung wie beteiligt war. Vermutlich aber war es so, dass die Zusammensetzung des demos, der Volksversammlung, tatsächlich recht akkurat entlang der sozialen Schichten verlief, sofern diese Schichten athenische Vollbürger waren (also beide Elternteile bereits das athenische Bürgerrecht besaßen). Die eigentlichen Politiker allerdings waren Aristokraten, die den schwierigen Balanceakt bestehen mussten, einerseits eine gewisse noblesse oblige zu verkörpern, andererseits aber volksnah zu sein. Wem das gelang, der avancierte schnell zum Liebling der Massen. Letztlich jedoch entschied der demos lediglich über die Vorschläge von adeligen Aristokraten, die ihre Wähler unter Umständen vorher schnöde bestochen hatten.

Gaius Gracchus als Volkstribun
In Rom ist es noch viel absurder, vom Volk zu sprechen, wenn man die republikanische Zeit meint (in der Kaiserzeit ließ es sich seine politischen Rechte ohnehin mit Brot und Spielen, panem et circensis, abkaufen). Schon die Bezeichnung als Republik zeigt, dass dem einfachen Volk hier nicht viel Mitspracherecht gegönnt war. Zwar durfte nominell jeder römische Bürger wählen, wegen eines rigiden Zensuswahlrechts allerdings zählten einzig die Stimmen der Reichen, die im Senat dementsprechend auch unter sich waren. Damit das auch so blieb war extra ein Zensor bestimmt, der Senatoren bei "falschem" Lebenswandel einfach ausschließen konnte. Völlig undenkbar, dass unter diesen Umständen jemals ein Nicht-Aristokrat in Amt und Würden gekommen wäre; die Republik diente der Einhegung der Adelskämpfe, nicht ihrer Abschaffung. Dementsprechend handeln auch meist Aristokraten untereinander. 

Im gesamten Mittelalter finden wir die Kategorie des Volkes für gewöhnlich nicht. Das liegt wohl auch daran, dass es keine Verkleidung für ihre Machtlosigkeit gibt: Gottesgnadentum und Feudalwesen lassen nicht einmal für den verdrehtesten Beobachter irgendwelche Schlüsse auf eine mögliche Volksherrschaft zu. Im Spätmittelalter und in der Renaissance beobachten wir dann den Aufstieg einer neuen Klasse: des Bürgertums. Noch bis ins 19. Jahrhundert stellt es einen verschwindend geringen Anteil an der Gesamtbevölkerung. Anhänger der Marx'schen Dialektik würden in ihnen ohnehin nur eine neue Aristokraten- und Ausbeuterschicht sehen. Auch hier kann von einer Volksherrschaft überhaupt nicht gesprochen werden. 

"Die Freiheit führt das Volk"
Erstmals konstituiert sich eine Volksbewegung wieder in der Französischen Revolution, wo in den Generalsständen hauptsächlich das Bürgertum aufbegehrt und durch eine gleichzeitige soziale (Hunger-)Krise zu verschärftem und deutlich radikalerem als ursprünglich angedachtem Handeln gezwungen wird. Hier jedoch werden zwei Bewegungen in einen Topf geworfen und zum "Volk" vermischt, die eigentlich gar nicht zusammengehören: auf der einen Seite die Unzufriedenheit der breiten Masse mit ihren Lebensumständen, also Hunger und Abgabenlast, und auf der anderen Seite die Unzufriedenheit der neuen Oberschicht (das Bürgertum) mit seinen eingeschränkten politischen und ökonomischen Betätigungsfeldern. Der Liberalismus, der damals zur starken Bewegung wird, hat im Volk nur da Rückhalt wo es ihm gelingt beide Bewegungen zu verquicken. Denn wenn sich eines bewahrheitet hat dann das, dass die Mehrheit des Volkes vor allem Stabilität und Sicherheit will. Zwischen einer Diktatur, die alle in Lohn und Brot hält, und einer freien Republik der Arbeitslosen wählen die meisten stets die Diktatur. Es ist diese Erkenntnis, aus der im 20. Jahrhundert der Wohlfahrtsstaat entstehen wird. 

Märzrevolution 1848
Das gleiche Muster findet sich, wie so oft verspätet, in Deutschland bei den revolutionären Bewegungen 1817, 1832 und 1848/49. Wohlsituierte Bürger sind die Motoren einer Entwicklung, die durch soziale Missstände befeuert wird. Sowohl das Ende der französischen Revolution im napoleonischen Putsch als auch das Ende der deutschen Revolution an den Spitzen der preußischen Bajonette riefen keine Reaktion mehr hervor. Stabilität und Sicherheit hatten politische Rechte von der Agenda deutlich verdrängt. 

Das Volk allerdings tritt in der Massendemokratie des 20. Jahrhunderts dann tatsächlich als Akteur auf. Es braucht lange Zeit, bis es alleine seine Rolle als Entscheider im Streit der Aristokratie wieder einnehmen darf (wenn der zweifellos überspannte Vergleich erlaubt ist), etwa in den US-Wahlkämpfen des 19. Jahrhunderts. Doch zeigen sich hier bereits Ansätze einer "Vervolkung", als auch Außenseiter ins Amt kommen (oder ihm doch zumindest nahe). Im 20. Jahrhundert dann schaffen die westlichen Demokratien für eine kurze Zeit, das Volk tatsächlich so weitgehend wie nie zuvor als handelnden Akteur zu schaffen. Es ist die Verquickung politischer Rechte mit der Absicherung der sozialen Existenz, die dieses Kunststück bewerkstelligt; die Erfindung des modernen Sozial- und Wohlfahrtsstaats. 

Warum aber wird "das Volk" so oft als handelnde Komponente dargestellt? Es drängt sich der Verdacht auf, dass viele Historiker dieses Chiffre nutzen, um Ereignissen, die sie persönlich wertschätzen, eine höhere Bedeutung zu verleihen. Es kommt nicht von ungefähr, dass das Volk gerade dann stets auftaucht, wenn es um die bürgerlichen Revolutionen geht (oder ihre Vorläufer, schließlich legitimierten sie sich stark aus dem humanistischen Bild der Antike). Die vorläufig letzte dieser Revolutionen war der Mauerfall 1989, und seither gab es solche Bewegungen im westlichen Kulturkreis effektiv nicht mehr. Die Voraussetzung für eine breite Unterstützung, das hat die Entwicklung der westlichen Demokratien des 20. Jahrhunderts gezeigt, ist der Wohlfahrtsstaat. Er allein vermag es, den Begriff "Bürger" nicht exklusiv zu verwenden und damit eine bestimmte Klasse zu beschreiben, sondern ihn auf alle Mitglieder der Gesellschaft auszudehnen. Nur hier kann auch von einem handelnden Akteur "Volk" gesprochen werden. Es ist eine tragisch kurze Epoche der Geschichte, in der dies der Fall ist, und man muss fürchten, dass wir gerade ihr Ende erleben. 

Bildnachweis: 
Akropolis - Leo von Klenze (gemeinfrei)
Gracchus - unbekannt (gemeinfrei)
Freiheit führt - Eugene Delacroix (gemeinfrei)
Märzrevolution - APPER (gemeinfrei)

2 Kommentare:

  1. Interessant ist es sich in diesem Zusammenhang die Geschichte des Reichstags in Berlin anzuschauen. Als repräsentativer Bau für das Parlament ggeplant aber als integrierender Bau für „deutsche Volk“ ausgeführt, immer wieder verzögert, neu ausgeschrieben, an einem vom Kaiser verordneten Tag angefangen zu bauen, ohne Platz für die Presse im Gebäude, vom Kaiser immer wieder massive Einmischungen in den Bauplan (er wollte Feudalherren als Staturen statt Goethe, Schiller o. Kant zB), ...

    Am bezeichnensten ist dann aber die Widmung „Dem deutschen Volke“. Erst lange vom Kaiser verweigert, 1916 als „Durchhaltegeschenk“ dann doch angebracht. Aber insbesondere die Formulierung der Widmung spiegelt die Essenz des Beitrags wieder. Denn hier wird etwas „dem Volk“ gewidmet, dass in dieser Konstellation nur von einer außergeordneten, höheren Instanz verstanden werden kann. Dies passt gut zu dem Selbstverständnis die Wilhelm I&II von sich hatten, nämlich Herrscher von Gottes Gnade zu sein.

    AntwortenLöschen
  2. Interessanter Artikel.

    Aber unterläuft dir nicht der gleiche Fehler, das "Volk" als Schaltendes und Waltendes, sozusagen als bewusstes Wesen darzustellen? Mit dem letzten Absatz gehe ich in fast allen Thesen mit, im Besonderen mit dem letzten Satz. Im vorletzten Abschnitt schleicht sich dann der populus in deinem Artikel auch als handelnder "Akteur" ein, und zwar in der "Massendemokratie". Ist das größere Problem, nicht, dass der Begriff häufig eine historisch-methodische unzulässige Verallgemeinerung ist (ähnlich "man", "man wollte die Demokratie" => wer?)? "Das Volk ging auf die Straße, weil es die DDR-Regierung stürzen wollte..." ist einfach ein ungenauer Satz. Natürlich ist es nahezu unmöglich eine genaue Analyse der sozialen Zusammensetzung der Montagsdemonstrationen oder ähnlichem vorzunehmen, aber "das Volk" im Sinne von der ganzen Bevölkerung der DDR haben mit Sicherheit nicht protestiert. Und vor allem nicht für eine Angliederung, wie sie historisch dann verlief, aber das ist eine ganz andere Diskussion.
    Und im letzten Abschnitt hätte ein stärkere These (die Rede vom Volk als Legitimation von Herrschaft, Entscheidungen, Ideologien) die Sache abgerundet. Alles nur meine Meinung und wie gesagt, guter Artikel und Hut ab, dass du dir soviel Mühe machst (gemacht hast)neben dem Studium.

    AntwortenLöschen