Dienstag, 30. November 2010

Von der Ersten zur Dritten Republik

Von Stefan Sasse

Flagge der Französischen Republik ("Tricolore")
Oftmals wird England als die eigentliche Wiege der Demokratie der Neuzeit angesehen (den Omni-Titel hält ja bekanntlich Athen), da es der erste Staat war, der ein Parlament einführte und damit der Macht des Königs deutliche Schranken setzte. Es dauerte jedoch bis weit ins 19. Jahrhundert, ehe das englische Parlament auch nur ansatzweise den Status einer "Volksvertretung" verdiente; lange nachdem seine mittlerweile unabhängigen amerikanischen Kolonien stark an England ausgerichtet die bisher stabilste Republik der Weltgeschichte gründeten. Doch bereits kurz nach der Unabhängigkeit der USA errichtete Frankreich in der Französischen Revolution die Erste Republik mit für die damalige Zeit einmaligen Rechten und Prinzipien. Die Nummer vor der "Republik" lässt dabei erahnen, dass noch einige nachkamen. Tatsächlich leben die Franzosen heute in der Fünften Republik, und die Geschichte der ersten drei dieser Republiken soll hier nachgezeichnet werden. 

Die Geschichte der Ersten Republik soll dabei nur angerissen werden; sie ist im Detail im zweiten Teil der Artikelserie zur Französischen Revolution nachzulesen. Etabliert wurde sie nach den turbulenten Ereignissen der Französischen Revolution und dem Scheitern der konstitutionellen Monarchie im Jahr 1792. Die Verfassung enthielt das Wahlrecht für Männer, eine Garantie des Privateigentums, das Recht des Volks auf Widerstand und eine Basis auf der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Die Verfassung trat jedoch nie in Kraft. Stattdessen wurde die Revolutionsregierung beibehalten, die 1794 in die so genannte "Schreckensherrschaft " (terreur) überglitt. Nach der Schreckensherrschaft war die Republik einem Rechtsruck unterworfen, der bereits 1795 in der Einrichtung des so gennanten Direktoriums mündete. Die Republik war damit faktisch abgeschafft und machte einem autoritären, wenngleich noch durch Zensuswahlrecht mühsam republikanisch legitimierten Staatswesen Platz, das rasch restaurative Züge annahm. Wie die Republik vorher gelang es auch dem Direktorium nicht, Frankreich zu stabilisieren. Besonders die ungelöste soziale Frage sorgte weiter für Sprengkraft, und das Direktorium war nicht besonders beliebt. Als Napoleon es 1799 stürzte und durch das so genannte "Konsulat" ersetzte, regte sich deswegen praktisch auch kein Widerstand. 

Die drei Konsuln Régis, Bonaparte und Lebrun
Das Konsulat Napoleons bestand aus drei Personen: Jean Jacques Régis (links), Napoleon Bonaparte (Mitte) und Charles-Francois Lebrun (rechts). Von Anfang an jedoch war Napoleon die bestimmende Macht in der Dreierkonstellation und spielte seine Mit-Konsuln schnell an die Wand. Er kontrollierte die Armee - und damit auch den Staat. Die französische Republik endete formell 1804, als Napoleon sich nach einer fingierten Volksabstimmung selbst zum Kaiser der Franzosen krönte und die Revolution für beendet (und implizit in seiner Person vollendet) erklärte. 

Man sollte jedoch nicht den Fehler machen und die kurze Ära der napoleonischen Herrschaft bis 1815 als für die Geschichte der französischen Republik nicht weiter relevant betrachten. Denn es war Napoleon, der Frankreich elementar weiter prägte. Er griff einige zentrale Errungenschaften der Revolution nicht an, sondern führte die eher weiter; vor allem die größere Egalisierung der Bevölkerung und ihre Konstitutionalität. Ausdruck findet diese Entwicklung im "Code Napoleon", einem Gesetzbuch, das wohl die größte juristische Bedeutung seit der Gesetzgebung der antiken römischen Republik besitzt. Der Code Napoleon enthielt ein bindendes Zivilrecht für alle Bevölkerungsschichten, das seiner Zeit soweit voraus war, dass es durch das gesamte 19. Jahrhundert der Maßstab für ähnliche Gesetzgebungen war. Das deutsche BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) von 1909 geht noch direkt auf den Code Napoleon zurück und ist grundsätzlich noch heute in Gebrauch. Auch die Einteilung Frankreichs in Départments und die Trennung von Staat und Kirche (Laizismus) griff Napoleon nicht an. Noch heute beruht die französische Republik auf diesem Fundament. 

Für die Geschichte der Republik nicht bedeutend ist dagegen die Zeit der Reaktion nach Napoleon, in der die Bourbonen-Könige wieder eingesetzt wurden und versuchten, das Land wieder auf den Stand von vor 1789 zurückzubringen. Dieses Unterfangen war nur mit Mühen aufrechtzuerhalten und konnte nur insoweit Früchte tragen, als die Weiterentwicklung um drei Jahrzehnte verschoben wurde - ähnlich der Entwicklung im restlichen Kontintentaleuropa, das unter Eindruck der "Heiligen Allianz" Metternichs stand, einem Bündnis der erzkonservativen Monarchen untereinander gegen ihre Bevölkerung. Das Regime der Bourbonen durchlitt mehrere Krisen - etwa die revolutionären Bewegungen von 1830 - ehe es in der großen europäischen Revolution von 1848 endgültig zerbrach. 

Barrikadenkämpfe 1848 in der Rue Soufflot
Ironischerweise scheiterte das Regime des so genannten "Bürgerkönigs" Louis Philippe an den gleichen Ursachen, an denen sich bereits die Französische Revolution entzündete: er war nicht bereit, seinen Bürgern (im eigentlichen Wortsinn) politische Partizipation zu gewähren, und er scheiterte vollständig daran, die soziale Frage zu lösen, die in den 1840er Jahren durch Missernten und Wirtschaftskrisen in ganz Europa virulent wurde und auch in Deutschland die Gemüter erhitzte. Anders als in Deutschland hatten die Armen - immer noch rund 90% der Bevölkerung - 1848 in Frankreich jedoch starke Advokaten. Der Krise im Februar, die zur Absetzung Louis Philippes führen sollte, ging ein Erstarken der liberalen Opposition zuvor. Im Gegensatz zu den Jahren 1789 bis 1792 hatten die Liberalen jedoch nicht merh das Monopol auf republikanische Opposition inne; eine mächtige sozialistische Bewegung verlangte ein Recht auf Arbeit (droit de travail), eine Begrenzung der täglichen Arbeitszeit und staatliche Beschäftigungsprogramme.

Trotz dieser Stärke der Sozialisten und Hungersnöten 1846 und 1847 fiel Louis Philippe letztlich über die Wahlrechtsfrage. Wie bereits zuvor war es der Monarchie nicht möglich, einen Kompromiss mit den bürgerlichen Liberalen zu finden, der es ihnen erlaubt hätte eine konstitutionelle Monarchie mit starkem parlamentarischen Arm aufzubauen. Im Winter 1848 erfasste die Revolution den König denn auch ungleich schneller und heftiger als es die von 1789 getan hatte, und obwohl er versuchte, mit Adolphe Thiers einen konservativen Oppositionellen zum Premier zu machen, wurde er Ende Februar zur Abdankung gezwungen. Der Weg für die zweite Republik war frei. 

Napoleon III., Präsident der 2. Republik
Allein, wie dieser Weg zu beschreiten sei war nicht klar. Während die Liberalen für ein Zensuswahlrecht eintraten und, wie bereits in der Revolution von 1789, vor allem einen Schutz bürgerlicher Freiheiten durchzusetzen wünschten, votierten die Linken lautstark für ein allgemeines (Männer-)Wahlrecht und die bereits erwähnten sozialen Reformen. Mit der Wahlrechtsforderung setzte sich die Linke durch. Am 3. März wurde verkündet, dass die Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung am 23. April nach dem allgemeinen Wahlrecht abgehalten werden würden, was immerhin neun Millionen Wahlberechtigte (gegenüber 250.000 der bürgerlichen Variante) bedeutete. Die Wahlen selbst jedoch brachten den Linken, die nur 200 der 900 Sitze eroberten, eine Niederlage. Rund 450 gingen an die Liberalen, der Rest an Konservative und Monarchisten. Die Verfassung war dieser Zersplitterung der Republik in ihren Anfangstagen entsprechend ein Kompromiss: die Linken setzten die Losung der Französischen Revolution von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als Grundprinzip, kostenlosen Grundschulunterricht, das Wahlrecht und die Abschaffung der Todesstrafe durch. Auf der anderen Seite aber mussten sie deutliche Zugeständnisse an die Liberalen und Rechten machen: nicht nur wurden Familie, Arbeit, Eigentum und Öffentliche Ordnung neben der revolutionären Trias zu Grundprinzipien der Republik erklärt; Kernforderungen wie das Recht auf Arbeit oder ein progressives Steuersystem konnten ebenfalls nicht durchgesetzt werden. Am Schlimmsten jedoch sollte sich die unklare Exekutivverteilung des Ein-Kammer-Parlaments auswirken: ein Präsident wurde alle vier Jahre (ebenso wie das Parlament selbst) gewählt, der der Regierung vorstand; die Kompetenzen besonders der Minister blieben jedoch äußerst nebulös und merkwürdig undefiniert.

Bei den Präsidentschaftswahlen im Dezember 1848 setzte sich der Kandidat der Rechten, Napoleon III. (ein Neffe Napoleon Bonapartes) klar gegen seinen Hauptkonkurrenten Cavaignac durch. Er verdankte seine Wahl vor allem zwei Umständen: dem fortwirkenden Nimbus Bonapartes, dessen Namen er trug und der allein eine Rückkehr zu Frankreichs alter Gloire zu versprechen schien, und der konservativ geprägten Landbevölkerung, die wie bereits 1789 nicht bereit war, die revolutionäre Bewegung mitzutragen. Der Widerstreit zwischen liberaler Stadt und konservativem Land ist ein ständiger Begleiter der französischen Geschichte und blieb auch der 2. Republik nicht erspart.

Kämpfe in Rom zwischen frz. und röm. Truppen
Das Land vollzog schnell einen Rechtsschwenk. Waren bei Gründung der Republik noch Angriffskriege ausgeschlossen worden, marschierten Soldaten unter der Trikolore nun in Rom ein und erzwangen die Wiedereinsetzung Papst Pius IX. Obwohl in der Nationalversammlung immer wieder Einträge gegen diese Invasion eingebracht wurden, fand keiner davon eine Mehrheit - Zeichen des innerhalb von Monaten radikal geänderten politischen Klimas. Bei den Parlamentswahlen vom 13. Mai 1849 gewannen die Monarchisten eine Mehrheit gegen die Liberalen, die selbst hinter die Sozialisten zurückfielen und nur drittstärkste Kraft wurden. Im Oktober entließ Napoleon III. seine parlamentarische Regierung und setzte eine eigene ein. Die unklare Kompetenzverteilung machte neben der Mehrheit, die er im Parlament für dieses Vorgehen besaß, Opposition fast unmöglich. Ein konservatives Schulgesetz stärkte den Einfluss der Geistlichen Schulen und war der Anfang vom Ende des Laizismus. Revolutionäre Symbole wie Freiheitsbäume wurden verboten. Im Mai 1850 wurde das Wahlrecht eingeschränkt; ein Drittel der Wähler verlor ihre Stimme, besonders die Arbeiter waren hiervon betroffen.

Zu diesem Zeitpunkt war die Republik faktisch bereits tot. Napoleon bereiste das Land zu jener Zeit mit dem Ziel, seine Popularität zu erhöhen und eine Revision der Verfassung zu ermöglichen, die ihm die Wiederwahl und später die Erneuerung des Kaiserreichs sichern sollte. Als er die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament hierfür verfehlte, entschloss er sich stattdessen zum Staatsstreich. Am 2. Dezember 1851, dem Jahrestag der Schlacht von Austerlitz, wurden führende Parlamentarier verhaftet, das Parlament aufgelöst und eine neue Verfassung angekündigt. Diese enthielt wieder das allgemeine Wahlrecht, einen zehnjährigen fast omnipotenten, erneut wählbaren Präsidenten sowie einer deutlich schwächeren Legislative. Zwar gab es lokale Aufstände gegen den Staatsstreich; diese erreichten jedoch nicht auch nur ansatzweise das Ausmaß der Aufstände von 1848 und konnten leicht niedergeschlagen werden. Die zweite Republik war damit am Ende. Das Plebiszit vom 2. Dezember 1852, das ihn als Kaiser bestätigte, war ebenso reine Makulatur wie das, das sein Onkel Napoleon Bonaparte 1804 abgehalten hatte. 

Napoleon III. übergibt seinen Säbel an Wilhelm I.
Das erste Jahrzehnt der Regierung Napoleon III. hatte autoritäre Züge; er führte diverse Kriege (etwa in Sardinien), baute Paris zu der Stadt aus, wie wir sie heute kennen - besonders die Alleen gehen auf ihn zurück -  und schob politische Gegner auf die Teufelsinsel und nach Neukaledonien ab. Ab 1860/61 stärkte er erneut das Parlament und ging zu einem liberaleren Regierungsstil über. Die 1860er Jahre standen unter dem Eindruck der deutschen nationalen Einigung, und Napoleon, dessen persönliche Legitimation viel auf militärischen Ruhm beruhte (schon allein, weil sie sich von Bonaparte herleitete) stand unter hohem Druck, eine starke Außenpolitik durchzuführen. Wohl nur so ist es zu erklären, mit welcher Leichtfertigkeit Frankreich in Bismarcks Falle stolperte. Ganz der Kaiser übernahm Napoleon III. persönlich das Kommando im deutsch-französischen Krieg von 1870 und wurde bei Sedan mit dem Gros der Armee eingeschlossen und besiegt. Er übergab seinen Säbel und wurde von den Preußen gefangengesetzt. Er unterlag dabei dem gleichen Irrtum, der auch die Deutschen ritt: dass der Krieg damit zu Ende sein würde. 

In Paris jedoch war man nicht auch nur im Geringsten dazu bereit. Die Stadt erklärte sich zur Kommune (Commune), die sich selbst regierte. Das war eine Sensation; traditionell regierte Paris sich nämlich nicht selbst, sondern wurde vom König/Kaiser verwaltet, da es stets der Unruheherd Frankreichs war. Alle Revolutionen gingen von Paris aus; eine Selbstverwaltung war also dazu angetan, diesen Zustand zu institutionalisieren. Dass die Kommune links war - links im damaligen Wortsinne, also vor allem radikaldemokratisch - tat da sein Übriges dazu. Das Parlament verließ die Stadt ohnehin nach Orléans, als die Deutschen auf die Stadt vorrückten, nicht ohne vorher die Dritte Republik auszurufen, nachdem Verhandlungen über eine neue konstitutionelle Monarchie gescheitert waren. Der Krieg würde fortgesetzt werden; gegen Paris vorzugehen, war der Regierung in Orléans nicht möglich, besonders nicht, seit der Kern des französischen Heers bei Sedan in Gefangenschaft geraten war.

Kommunarden stürzen die Véndome-Säule
Die Geschichte der Kommune ist einen eigenen Artikel wert und soll deswegen nur kurz skizziert werden: die Regierung war nicht bereit, die Kommune anzuerkennen. Die deutsche Armee schloss Paris ein und belagerte es. Verhandlungen wurden geführt. Der von den Parisern erwartete Sturm auf die Stadt blieb aber aus, stattdessen Belagerungsalltag. Die Kommune radikalisierte sich und begann, genuin linke Positionen zu vertreten, indem sie ihrem Demokratisierungsprogramm auch noch ein ambitioniertes Bildungs- und Sozialprogramm hinzufügte. Die Regierung in Orléans unter Adolphe Thiers hatte da längst beschlossen, die Kommune loszuwerden. Nachdem ein Überraschungsangriff scheiterte, musste Paris von den Truppen - inzwischen dank des Friedensvertrags mit Bismarck freigelassen - Straße für Straße in blutigen Kämpfen erobert werden. Die Armee stammte hauptsächlich vom Land, das für den brodelnden Koloss Paris wenig übrig hatte; hier zeigt sich der Gegensatz zwischen Stadt und Land in Frankreich ein weiteres Mal, und nie zuvor oder danach hatte er eine solch hässliche, tödliche Fratze. Nach der Einnahme der Stadt erschossen die Soldaten in einem tagelangen Blutbad gut 30.000 Aufständische oder was sie dafür hielten.

Danach herrschte Friedhofsruhe in Frankreich. Die neue Verfassung (1875; eigentlich keine Verfassung, sondern lediglich drei verfassende Gesetze) sah ein Zwei-Kammern-Parlament vor, mit auf sieben Jahre gewähltem Präsidenten, dessen Regierung unter einem Ministerpräsidenten allerdings von den (häufig wechselnden) Kabinettsmehrheiten abhängig war. Die Dritte Republik sah sich einer ganzen Reihe von Problemen gegenüber, die es anzupacken galt: der unter Napoleon III. stark gestiegene Einfluss der katholischen Kirche auf die Staatsgeschäfte, die außenpolitische Isolierung, die Reparationen an Deutschland, die soziale Frage und Staatsstreichdrohungen durch Militärs. Trotz dieser großen Menge an Problemen und der ungünstigen Startbedingungen war die Dritte Republik die langlebigste der französischen Republiken. Im späten 19. Jahrhundert war Frankreich die einzige reine Republik Europas und besaß das wohl liberalste Staatswesen.

Der Wirtschaftsaufschwung nach dem deutsch-französischen Krieg erlaubte es Frankreich, die Reparationen an Deutschland leicht und noch vor der vereinbarten Zeit abzubezahlen. Außenpolitisch begann man, die durch Bismarcks geheimdiplomatische Bündnispolitik verfestigte Isolation langsam abzubauen und Kolonien zu akquirieren. Das Land war in den 1880er Jahren zunehmend stabilisiert und hatte seine Stellung innerhalb Europas normalisiert. Das schloss ein Teilnehmen am Rausch der imperialistischen Kolonieerwerbungen jener Epoche ein, die 1898 beinahe zum Krieg mit England führten, als koloniale Ansprüche in Faschoda aufeinandertrafen. Prämisse der Außenpolitik war klar der Bruch der Isolation und eine Stärkung der französischen Position; dies wurde vor allem durch eine Annäherung zu Russland erreicht, dem Frankreich ab den 1880er Jahren großzügige Kredite gewährte und es dadurch wirtschaftlich so eng an sich band, dass das militärische Bündnis quasi Makulatur wurde - keiner der beiden Staaten konnte den anderen mehr untergehen lassen, ohne ernsthafte Einbußen hinnehmen zu müssen.

Bau des Panamakanal 1888
Bis zum Ersten Weltkrieg wurde die Dritte Republik jedoch von zahlreichen innenpolitischen Krisen erschüttert, die alle Fährnisse der Außenpolitik in den Schatten stellten. 1889 gewannen Rechtsradikale entscheidend an Zulauf, die sich hinter der Position des energisch für einen Vergeltungskrieg gegen Deutschland eintretenden Generals Boulanger sammelten, der zuvor aus dem Militär entlassen worden war, da man Staatsstreichtendenzen bei ihm vermutete. Tatsächlich trugen ihm die radikalen einen Militärputsch an, jedoch konnte sich Boulanger nicht entscheiden. Als der Staat Gegenmaßnahmen ergriff, flüchtete er nach Brüssel, wo er 1891 seinem Leben selbst ein Ende setzte. Ebenfalls 1889 erlitt die Regierung eine starke Vertrauenskrise im Zuge des Panamakanalskandals. Der Bau des Kanals durch Panama lag in den Händen der französischen Société Civile Internationale du Canal Interocéanique und war durch Aktien finanziert. Die Gesellschaft war jedoch 1889 praktisch bankrott; die Regierung verheimlichte dies aber und veranstaltete stattdessen eine Lotterie, um die Kassen aufzufüllen - was das endgültige Aus der Gesellschaft im gleichen Jahr nicht verhindern konnte, jedoch massiv Vertrauen kostete.

Die Wasserscheide der Republik aber markiert die Dreyfus-Affäre von 1894. Der jüdische Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus, der zu allem Überfluss auch noch deutschstämmig war, wurde ohne Beweise der Spionage angeklagt. Der Prozess war durch zahlreiche Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit, das Nutzen gefälschter Beweise und antisemitischer Vorurteile geprägt. Dreyfus wurde schuldig befunden und auf die Teufelsinsel verbannt. Die Affäre jedoch war damit nicht beendet, sie fing erst an, denn die Bevölkerung polarisierte sich in ungekanntem Ausmaß über die Affäre und spaltete sich in drei Gruppen: eine, die für Dreyfus' Rehabilitierung eintrat und auf rechtsstaatliche Prinzipien pochte; eine Fraktion, die seine Schuld als erwiesen und das harte Vorgehen für gerechtfertigt ansah und sich zur Legitimierung stark reaktionärer und antisemitischer Muster bediente; und eine, die zwar an Dreyfus' Unschuld glaubte, es aber im Interesse der Staatsräson sah, ihn nicht zu rehabilitieren, da man eine Staatskrise für diesen Fall befürchtete. Die Auseinandersetzung wurde letztlich von der Linken entschieden, die die Wahlen von 1902 gewann und 1905 erfolgreich ein Revisionsverfahren anstrebte.

Alfred Dreyfus
Die Affäre war aber besonders für die katholische Kirche verheerend, die sich in widerwärtiger Weise reaktionär und antisemitisch gebärdete und besonders stark gegen Dreyfus plädierte. Ihr Verhalten in der Affäre und ihre ohnehin republikfeindliche Einstellung sorgten dafür, dass sich eine deutliche Mehrheit der Franzosen selbst in den konservativen ländlichen Gegenden gegen politischen Einfluss der Kirche wandte. Der Laizismus, der bereits die Erste und Zweite Republik gekennzeichnet hatte, kehrte mit Macht zurück. Radikal wurde im Gesetz zur Trennung von Staat und Kirche (Loi relatrive à la séparation des Eglises et de l'Etat) das laizistische Prinzip umgesetzt. Über 3000 konfessionelle Schulen wurden geschlossen und stattdessen ein einheitliches staatliches Schulsystem geschaffen. Bischöfe wurden vom Staat eingesetzt und besoldet, Ordensgemeinschaften aufgelöst. Das Verhältnis zum Vatikan wurde dadurch auf viele Jahre zerrüttet.

In de folgenden Jahren stabilisierte sich Frankreich und konnte außenpolitische Erfolge feiern. Die Entente Cordiale mit England beseitigte die Gefahr eines Krieges über koloniale Fragen mit dem Inselreich, und das Bündnis mit Russland schützte es vor Willkür durch Deutschland, mit dem die Republik in den Marokkokrisen wiederholt aneinandergeriet. Die nationalistische Stimmung im Land heizte sich in jenen Tagen auf, und die Rechten übernahmen erneut das Ruder. Als im August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, geriet die Republik an den Rand des Zusammenbruchs. Die französische Armee erlitt in der Offensive gegen Elsaß-Lothringen schwere Verluste, während die deutschen Armeen auf Paris vorrückten und erst an der Marne mühsam gestoppt werden konnten. Präsident Poincaré rief die Union Sacrée aus, das Gegenstück zum deutschen Burgfrieden, und alle Parteien beteiligten sich an der Regierung und legten zumindest offiziell ihre politischen Streitigkeiten zur Seite. Im Krieg herrschte eine scharfe Zensur und eine Militärgerichtsbarkeit, die viele republikanische Elemente außer Kraft setzte und deutlich schärfere Restriktionen für die Demokratie mit sich brachte als etwa in Deutschland. Die Erfolglosigkeit Frankreichs im Krieg, die hohen Verluste und die Militärstreiks von 1917 brachten Clemenceau, den rechten Gegner Poincarés, im selben Jahr als Ministerpräsident an die Macht. Er beendete rücksichtslos die Streiks und mobilisierte noch einmal alle Reserven. 1918 musste Deutschland um Waffenstillstand bitten. Frankreich hatte zwar nicht wirklich gesiegt - sein Zusammenbruch war nur durch massive militärische Hilfe Englands aufgehalten worden, der Sieg nur wegen des Kriegseintritts der USA möglich - aber es hatte Deutschland aufgehalten und letztlich unter extremen Opfern das Rückgrat der deutschen Armee gebrochen, eine Situation, in die es 1917 ebenfalls fast gekommen wäre.

Léon Blum
Das Kriegsende brachte für Frankreich tiefe Enttäuschungen. Im Versailler Friedensvertrag von 1919 gelang es Frankreich nicht, seine Linie zu verfolgen, die darin bestand, die deutsche Bedrohung durch erneute Spaltung des Landes oder zumindest Abtretung des Rheinlandes endgültig zu beseitigen. Stattdessen versicherte man sich des deutschen Revanchismus durch hohe Reparationsforderungen und demütigende Friedens-bedingungen, die man nur dann durchsetzen würde können, wenn mindestens England, besser aber noch Russland und die USA hinter ihm standen. Dies war jedoch von Anfang an nicht gegeben; das Versailler System eine Totgeburt. Deutschland bezahlte nie die Reparationen, die Frankreich forderte, und das Land erholte sich nur langsam von den Schäden der Kriegszeit und den hohen Verlusten. Die Wirtschaft konnte erst ab 1926 einigermaßen stabilisiert werden (in Deutschland bereits ab 1924) und in der Ruhrbesetzung musste Frankreich 1923 eine Niederlage hinnehmen. In der Bevölkerung machte sich eine tiefe Resignation über den Ersten Weltkrieg und sein Ergebnis breit. Die Weltwirtschaftskrise ab 1929 traf Frankreich ebenfalls hart. Innenpolitisch wurde die soziale Frage wieder bedeutend, und die konservativen Kabinette konnten sich ihr nicht angemessen widmen. Dies führte im Jahr 1936 zur Bildung der Volksfrontregierung von Sozialisten und Kommunisten unter Léon Blum.

Bereits die Einsetzung der Regierung war von heftigen Arbeitskämpfen überschattet, die die Einführung der 40-Stunden-Woche und des bezahlten Jahresurlaubs brachten. Die Regierung konnte jedoch keine echte Handlungsfähigkeit erringen; sie war von Anfang an dadurch behindert, dass die Kommunisten sie lediglich tolerierten, nicht aber an ihr teilnahmen. Nach einigen weiteren Reformen wie der Verstaatlichung der Banque de France scheiterte die Regierung an ihrem Versuch, den Franc zu stabilisieren. Die Währungskrise vernichtete den Reformspielraum, und zusätzlich sah sie sich einer außenpolitischen Krise ausgesetzt, als Frankreich und England eine Nichteinmischung in den spanischen Bürgerkrieg beschlossen und damit die Republik in Spanien entscheidend schwächten (zwar nahmen auch Italien und Deutschland am zugrundeliegenden Abkommen teil, hielten es jedoch nicht ein). Über das Verteidigungsbudget zerbrach die Volksfrontregierung dann Ende der 1930er Jahre endgültig.

Pétain und Hitler 1940
1939 entfesselte Nazi-Deutschland den Zweiten Weltkrieg, indem es Polen überfiel. Das mit Polen verbündete Frankreich, das 1938 bereits die verbündete Tschecheslowakei für den - wie sich nun endgültig zeigte: illusionären - Frieden geopfert hatte, erklärte Deutschland zusammen mit England den Krieg. Moralisch hatte es den Krieg zu jenem Zeitpunkt bereits verloren. Die Bevölkerung war vollkommen resigniert. Man hatte nur allzu deutlich das Ende des Ersten Weltkriegs vor Augen und wusste, dass man nichts gewonnen, aber vieles verloren hatte. Warum sollte man erneut so viel opfern, um Deutschland aufzuhalten, das man ohnehin in der Vergangenheit nicht richtig behandelt hatte? Frankreich verkroch sich hinter der Maginotlinie und hoffte, dass irgendwie doch sich alles zum Guten wenden würde - oder dass man Deutschland zumindest von einem Angriff würde abhalten können. Die Zeit jedoch hatte das französische Militär, das eine Wiederholung des Stellungskrieges von 1914-1918 antizipierte, endgültig überholt. Die deutsche Armee stieß durch die Ardennen, kesselte die alliierten Streitkräfte an der Kanalküste ein und rückte danach auf Paris vor. Die Nationalversammlung war nicht bereit, den Krieg an der Seite Englands fortzusetzen. Präsident Lebrun musste den rechten, antirepublikanischen Marschall Pétain, einen Helden des Ersten Weltkriegs, mit der Regierungsbildung betrauen. Ein Waffenstillstand mit Hitler wurde geschlossen, indem Frankreich geteilt wurde. Pétain arbeitete eine neue, autoritäre Verfassung aus und wurde "Chef de l'Etat" mit fast unumschränkten Vollmachten. Die dritte Republik war am Ende und durch eine quasi-Diktatur abgelöst. Für Frankreich begann die bittere Zeit der Kooperation mit Nazi-Deutschland und der Besetzung.; viele Franzosen waren der Überzeugung, dass diese Kooperation die einzige Möglichkeit zu überleben war, zu stark und siegesgewiss schienen die Deutschen. Erst im Fortgang des Krieges, der Verschlechterung der Bedingungen und der Besetzung auch Südfrankreichs 1942 fanden viele Franzosen zu ihren Überzeugungen zurück und begannen, aktiv gegen Deutschland zu arbeiten oder doch zumindest passiv Widerstand zu leisten. Fieberhaft erwartete man die Rückkehr der Alliierten und General de Gaulles, der sich im Londoner Exil als legitime französische Regierung gebärdete. Als am 6. Juni 1944 die alliierten Truppen in der Normandie landeten, war das Vichy-Regime bereits praktisch tot. Frankreich erwartete seine Restauration als vierte Republik.

Bildnachweis: 
Tricolore - Wikimedia (gemeinfrei)
Konsuln - Vengorpe (gemeinfrei)
Barrikaden - Horace Vernet (gemeinfrei)
Napoleon III. - official portrait as president of the Second Republic of France (gemeinfrei)
Rom - unbekannt (gemeinfrei)
Sedan - PUBLISHED BY CURRIER A IVES (gemeinfrei)
Kommune - unbekannt (gemeinfrei)
Kanal - Blanc (gemeinfrei) 
Dreyfus - Ullstein Bilderdienst (gemeinfrei)
Blum - Harris&Ewing (gemeinfrei)
Pétain - Heinrich Hoffmann (CC-BY-SA 3.0)

3 Kommentare:

  1. Die Verfassung der USA ist von 1787/88, die Revolution fing erst 1789 an.

    Sollte man nicht sagen, dass die USA älter sind?

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  2. Ja, sollte man, war auch so gedacht. Hätte mir eigentlich auffallen sollen. Korrigiert, danke.

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  3. Ansonsten danke ich dir für diese interessanten Texte in diesem wertvollen Blog!

    Ich hab es leider aus Zeitgründen noch nicht geschafft, viel zu lesen.

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