Dienstag, 9. November 2010

Der 9. November - ein deutscher Tag in einem deutschen Jahrhundert

Von Stefan Sasse

Zu sagen, dass Deutschland das 20. Jahrhundert entscheidend mitgeprägt hat, dürfte keine Übertreibung sein. Zwei Weltkriege gingen von seinem Boden aus, der größte organisierte Völkermord der Weltgeschichte, und für 50 Jahre war es Schlachtfeld des Ost-West-Konflikts und beständiger Brennpunkt des atomaren Zeitalters. Gleich vier große Ereignisse der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts fanden an einem 9. November statt. Diese geschichtlichen Ereignisse sind: der Beginn der Revolution von 1918/19, der Hitlerputsch 1923, die Reichspogromnacht 1938 und der Mauerfall 1989. Das erste und das letzte Ereignis sind zufällig an diesem Tag geschehen. Die beiden mittleren waren eine Reaktion auf den ersten. 

Die deutsche Revolution

Revolutionäre am Brandenburger Tor
Am 9. November 1918 beginnt in den meisten Geschichtsschreibungen offiziell die deutsche Revolution, die keine werden sollte (siehe Artikel hier und hier). Die Marineleitung war unzufrieden mit dem Gang der Dinge gewesen, hatte doch lediglich eine (unentschiedene) Seeschlacht stattgefunden, 1916 am Skaggerak. Wozu hatte man jahrzehntelange Lobbyarbeit für eine deutsche Hochseeflotte betrieben, wenn sie nun nicht gegen den ärgsten Feind, das "arglistige Albion" - England - eingesetzt werden konnte? So befahl die deutsche Admiralität ohne Absprache mit der Reichsleitung das Auslaufen der Flotte und eine letzte Schlacht. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Reichsleitung bereits seit geraumer Zeit in Waffenstillstandsverhandlungen - die Admiräle begingen also glatten Hochverrat. Viele Matrosen hatten allerdings keine Lust, sich für die Glorie der Admiralität opfern zu lassen und meuterte. Ungeschickt versuchte die Admiralität, die Meuterei niederzuschlagen, die sich stattdessen schnell in offenen Aufstand wandelte.

Wie die Geschehnisse weiter ihren Fortgang nehmen sollten ist den verlinkten Artikeln deutlich ausführlicher zu entnehmen. Für uns ist wichtig, dass von diesen Ereignissen die frühere Bezeichnung "Novemberrevolution" für die Geschehnisse des Jahres 1918/19 herstammt, eine Bezeichnung, die man so heute nicht mehr verwenden würde - schließlich zieht sich die Revolution bis weit ins Jahr 1919 hinein. Die Rechte schrie jedoch bald gegen die "Novemberverbrecher", die an diesem Tage dem "unbesiegt im Felde stehenden Heer den Dolchstoß in den Rücken" verpasst hätten. 

Der Hitler-Putsch

Nazi-Stoßtrupp beim Putschversuch
Es ist also keineswegs ein Zufall, dass Hitler und Ludendorff und die anderen Brauereikellerverschwörer den 9. November als Tag ihres Putsches zur neuen nationalen Auferstehung wählten. Sie trachteten danach, dem 9. November, dessen sich sogar die demokratischen Parteien schämten, eine neue Bedeutung, einen neuen Mythos zu verleihen. Das misslang 1923 bekanntlich; der Hitlerputsch scheiterte. In der Mythologie der jungen nationalsozialistischen Bewegung jedoch erhielt er große Weihekraft und wurde tatsächlich zu einer Art überlagernden, positiven Erinnerung an den 9. November, ohne dass man das Feindbild der "Novemberverbrecher" je aufgeben würde. Dafür war es viel zu nützlich. 

Der eigentliche "Hitler-Putsch" dagegen, der den Namen erst später durch die erneute charakterlose Feigheit Ludendorffs erhielt, der nach dem Scheitern ins Ausland floh und die Bühne dem kleinen Hitler überließ, ist eine durch und durch peinliche Angelegenheit. 1923 war Bayern ein von einer autoritären und undemokratischen Regierung geführtes Land im Ausnahmezustand, dem Reich (und damit der Republik) nur de jure angehörig, de facto aber halb autonom. In einem Brauereikeller in München startete Hitler, nicht ohne erste peinliche Patzer, die große Revolution, ließ die Regierung absetzen und plante den Marsch auf Berlin. Dazu sollte es freilich nie kommen; die Regierung holte zum Gegenschlag aus und ließ die Verschwörer einfach festnehmen. Hitler lud alle Schuld - und damit auch allen Ruhm - auf sich, und seine feigen Mitverschwörer ließen es geschehen. 

Als Hitler 1924 aus dem Gefängnis kam, war seine Partei verboten und die Republik zog besseren Zeiten entgegen. Wäre das Schicksal gnädiger gewesen, so wäre Hitler wohl nur eine Randbemerkung in den Geschichtsbüchern als der einzige Putschist, der je versucht hatte, von einem Bierkeller aus eine Revolution zu starten. Leider kam es anders.
Reichspogromnacht

Synagoge nach Brandanschlag November 1938
Am 9. November 1938 brannten in Deutschland die Synagogen. In der von den Nazis so bezeichneten "Reichskristallnacht" entfesselten die braunen Bataillone der NSDAP gezielt ein Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung, zerstörten ihre Gotteshäuser und warfen die Schaufensterscheiben von Geschäften ein. Die Aktion währte nur wenige Stunden. Ihre Wirkung war nicht wie gedacht. Anstatt sich freudig am Geschehen zu beteiligen, blieben die meisten Bürger passiv, einige waren sogar angewidert und wandten sich von dem Staat, der solches Treiben unterstützte, ab. Manche anderen machten mit und bereicherten sich. Für Hitler selbst war die Nacht eine Enttäuschung; wie bereits seine Test-Militärparade auch machte sie ihm deutlich, dass die Deutschen keineswegs fanatisch seinen Weg mitgehen wollten. 

Auch mit Blick auf die Wirkung solcher Geschehnisse im Ausland sah man bis zum Kriegsbeginn von weiteren Aktionen dieser Art ab. Um dem ganzen einen Anstrich von Legalität zu geben, verurteilte man die Juden Deutschlands insgesamt zu einer "Sühnestrafe" im neunstelligen Bereich, die diese auch ableisteten. Der Zynismus dieser Forderung, mit der die Schuld für das Pogrom den Juden selbst zugeschoben wurde - hier durchaus im Einklang mit Pogromen früherer Zeiten - ist kaum zu überbieten. War der Hitler-Putsch noch ein lächerlicher Versuch gewesen, die Reichspogromnacht war es sicherlich nicht. 

Mauerfall

Schabowskis Pressekonferenz
Am Abend des 9. November 1989 verzettelte sich Günter Schabowski bei einer Pressekonferenz vor ausländischen Journalisten und verkündete, die Grenzübergänge würden sofort geöffnet; DDR-Bürger könnten ab sofort in den Westen reisen. Obgleich es inzwischen Theorien gibt, dass dies grundsätzlich mit dem Westen abgesprochen war, ändert dies nichts an dem, was kurz darauf geschah: die Volksmassen Berlins bestürmten die Grenzübergänge, wo die Volkspolizisten (VoPos) ohne Befehle nicht wussten, was sie tun sollten. Die Masse dagegen wusste es, und den VoPos blieben nur zwei Möglichkeiten: öffnen oder schießen. Niemand weiß was passiert wäre, hätten sie geschossen. Vermutlich wäre es die vielbeschworene deutsche Version vom Massaker am "Platz des Himmlischen Friedens" gewesen. 

Sie schossen aber nicht. Von West wie Ost wurde die Mauer erklettert und erstürmt, die Grenzübergänge wurden praktisch nicht-existent. Es war der letzte Schlag gegen das morsch gewordene DDR-Regime, und es sollte ihn nicht überstehen. Zu diesem Zeitpunkt war das noch kaum klar. Der Mauerfall war ohne die Politik abgegangen, weder von Westen noch von den DDR-Oppositionsgruppen ausgegangen. Erst am folgenden Tag begannen sie sich, mal mehr, mal weniger der sich bietenden Chance bewusst (in Kohls Fall mehr, im Fall der SPD und der Oppositionsgruppen weniger), in den Prozess einzuschalten, der mit rasanter Geschwindigkeit zum Zerfall der DDR führen sollte. 

Schluss

Georg Elser auf Briefmarke
Der 9. November wird heute vor allem als Tag des Mauerfalls zelebriert. Der Versuch des Staates, hier einen Identifikationstag zu schaffen, ist ebenso offenkundig wie peinlich. Die letztjährigen Feiern zum 20jährigen Jubiläum des Mauerfalls waren so grotesk albern in ihrer aufgeblasenen, ritualisierten Form, dass jedem historisch fühlenden Menschen das Herz schmerzen musste. Er eignet sich auch denkbar schlecht als nationaler Feiertag der BRD. Deren Gründungsmythos bleibt das Wirtschaftswunder, nicht der Mauerfall. Gelegentlich wird auch der Reichspogromnacht und, selten, dem Hitler-Putsch gedacht. Praktisch völlig aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden ist der 9. November als Jahrestag der deutschen Revolution. Dies ist eine der Spätwirkungen der Nazi-Zeit, die sich noch bis heute ziehen. Genausowenig bekannt ist der 9. November 1939, an dem Georg Elser versuchte, Hitler in die Luft zu sprengen. Bis heute tut sich München mit seiner Anerkennung ebenso schwer wie seine Heimatstadt Heidenheim, die noch heute ein deutlich kleineres Denkmal für Elser als für Erwin Rommel ihr eigen nennt.

Es ist auffällig, dass der BRD jeder vernünftige nationale Feiertag fehlt. Der 3. Oktober hat nie einen Stellenwert im emotionalen Bewusstsein erhalten können, der auch nur annähernd mit dem 4. Juli der Amerikaner oder dem 14. Juli der Franzosen vergleichbar wäre. Der 17. Juni vorher hat dies noch weniger vermocht. Sebastian Haffner schrieb einst, dass der einzig echte Feiertag, den die Deutschen je hatten, der Sedan-Tag am 2. September war. Hier aber feierte man die Niederlage Frankreichs im deutsch-französischen Krieg 1870, kaum ein Tag also, dem man heute noch gedenken will. Vermutlich tun wir uns auch deswegen mit unserer nationalen Identität heute noch so schwer, weil wir keinen solchen Tag haben. Dass so viele Ereignisse des deutschen 20. Jahrhunderts zudem im November liegen, einem besonders grauen und regenreichen Monat, spricht wohl ebenfalls Bände über die deutsche historische Gemütsverfassung.

Bildnachweise: 
Revolutionäre - unbekannt (gemeinfrei)
Nazistoßtrupp - unbekannt (gemeinfrei)
Synagoge - unbekannt (gemeinfrei)
Pressekonferenz - Thomas Lehmann (CC-BY-SA)
Briefmarke - Post AG (gemeinfrei)

7 Kommentare:

  1. Wie wäre es mit dem 23. Mai?
    Das Wetter ist entsprechend, es gibt viele andere Feiertage in der Nähe, mit denen man Brücken bauen kann und das GG gilt für West und Ost.

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  2. Es ist kein Wunder dass der 9. November 1939 kein Begriff ist: Georg Elsers Bombe detonierte am 8. November um 21:20 Uhr.

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  3. "Wäre das Schicksal gnädiger gewesen,"
    oder die Richter im Münchner Volksgericht keine reaktionären, konservativen Natoinalisten,
    "so wäre Hitler wohl nur eine Randbemerkung in den Geschichtsbüchern..."

    Schönes Blog! Liebe Grüße

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  4. Deutschland Deutschland über alles, über alles auf der Welt!!

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