Freitag, 3. September 2010

Eine kurze Geschichte der Migration und Integration in der BRD

Von Stefan Sasse

Vertreibung in Schlesien 1945
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Massen von Menschen unterwegs und auf der Flucht. Millionen Deutsche waren aus den nun verlorenen Ostgebieten des Reiches vertrieben worden und brauchten eine Bleibe. Zwangsarbeiter, aus allen Ländern und Völkern Osteuropas ins Reich verschleppt, irrten durch die Ruinen ihrer einstigen Wärter. Kriegsgefangene befanden sich in großer Zahl im Land. Die Überlebenden der Konzentrationslager versuchten ihr kärgliches Dasein zu fristen. Im Ausland saßen Exilanten auf gepackten Koffern und hofften, bald nach Deutschland heimkehren zu können. Bedenkt man die damaligen Umstände, konnten diese Probleme überraschend gut gelöst werden. Die meisten der so genannten "Displaced Persons", also vor allem die Zwangsarbeiter aus der Kriegszeit, konnten entweder mit Asyl versorgt oder in ihre Heimat zurückgeschickt werden (wo sie unter dem stalinistischen Regime freilich häufig nur eine Fortsetzung des nazistischen Albtraums erwartete). Auch die Kriegsgefangenen wurden samt und sonders repatriiert. Der jungen Bundesrepublik gelang es mit Solidarausgleich und anderen Gesetzen, die Ostflüchtlinge zu integrieren - eine oftmals übergangene und erstaunliche Leistung, die vor allem darauf beruhte, dass man diejenigen belastete, die halbwegs ordentlich durch den Krieg gekommen waren. Die Leistung wurde solidarisch erbracht, und die Ostflüchtlinge bis Mitte der 1960er Jahre untergebracht.

Unterzeichnung Anwerbevertrag mit Spanien 1960
Ende der 1950er Jahre, als die Aufräumarbeiten abgeschlossen waren und der Wirtschaftsboom in voller Blüte stand, herrschte Vollbeschäftigung. Es fehlte an Arbeitskräften, besonders für die einfachen, niedrig qualifizierten Arbeiten. Um diesen Mangel zu lösen, begann man Anwerbeverträge zu schließen, zuerst mit Italien, später auch mit Spanien, Portugal und Griechenland. Die Arbeiter kamen dabei aus strukturschwachen Regionen ihrer Heimatländer - Süditalien beispielsweise - und wurden für einen begrenzten Zeitraum angeworben, nach dessen Ende sie wieder nach Hause zurückkehrten, oft genug, um sich im nächsten Jahr erneut anwerben zu lassen. Es ging darum, möglichst viel Geld in Deutschland zu verdienen und dieses dann nach Hause zurückzubringen, wo häufig die Familie geblieben war. Als der Wirtschaftsaufschwung dann auch diese Anwerbeländer erfasste, schloss die deutsche Regierung in den 1960er Jahren Anwerbeverträge mit der Türkei. Die Türken hatten das Pech, in die Phase der ersten deutschen Rezession hinein angeworben zu werden, die die BRD ab 1965/66 erfasste.

Bis dahin waren die Ausländer nie ein Thema gewesen. Man hatte sie mit einer gewissen Neugierde betrachtet, doch sich ansonsten kaum um sie gekümmert. Es hatte einige Aufklärungsinitiativen gegeben, etwa "Mein Kollege, der Türke" (BILD), in denen vor den offensichtlichsten kulturellen Stolperfallen gewarnt wurde (so die Essensregeln des Islam), aber die Gastarbeiter blieben meist in ihren eigenen (Container-)Siedlungen unter sich. Mit der Rezession kam zuverlässig der Fremdenhass zurück. Die Vorurteile, die man den Gastarbeitern gegenüber hegte, entstammten oftmals noch ungefiltert der Zeit des Dritten Reichs. Man verdächtigte sie, deutschen Mädchen hinterherzustellen und den Wert "deutscher Arbeit" nicht zu kennen. Außerdem schienen sie natürlich die plötzlich knapp werdenden Arbeitsplätze zu verdrängen. Der Großen Koalition gelang es jedoch unter Wirtschaftsminister Schiller und Finanzminister Strauß ("Plisch und Plumm") durch keynesianische Interventionsprogramme das Wirtschaftswachstum wieder anzuschieben.

Als sich zu Beginn der 1970er Jahre die Wirtschaftsdaten abermals zu verschlechtern begannen war den Beteiligten klar, dass man die Gastarbeiter nicht mehr im bisherigen Umfang brauchen würde. Bereits vorher hatte man eher beiläufig die Anwerbezahlen verringert, was den Gastarbeitern nicht verborgen geblieben war. Für viele von ihnen stellte sich nun eine lange aufgeschobene Frage: sollten sie in ihre Heimat zurückkehren, wo aufgrund des vollzogenen Strukturwandels oftmals keine Arbeit in Sicht war (ein Schicksal, das sowohl die süditalienischen Bauern als auch die Fischer der griechischen Inseln hart traf) oder sollten sie in Deutschland bleiben und einer ungewissen Zukunft entgegensehen? Für viele Gastarbeiter war das eine Art Offenbarungseid. Viele von ihnen waren schon so lange in Deutschland, dass der Gedanke an Rückkehr Angstauslösend gewesen sein muss. Andererseits hatten sie aber beständig die gleiche Lüge gepflegt wie die Deutschen selbst, nämlich die dass sie eines Tages zurückkehren würden. Es war der große Selbstbetrug dieser Generation, die sich sonntags gern am Bahnhof traf - dem Ort, von dem aus man die Heimreise antreten würde. Doch eine Rückkehr erforderte so viel Geld, dass sie respektabel auskommen könnten, und so viel Geld hatten sie oftmals nicht. Die Regierung indessen redete sich ein, dass die Gastarbeiter schon wieder gehen würden und erkannte überhaupt nicht, vor welch tiefgreifender Entscheidung die Gastarbeiter standen.
Wie wir wissen, entschied sich der Großteil der Migranten für das Bleiben. 1973 verkündete die Regierung einen offiziellen Anwerbestopp für Gastarbeiter. Damit konnten die Gastarbeiter ihre Entscheidung nicht mehr hinauszögern; sie wurden in der Mehrheit der Fälle Migranten. Der Familiennachzug war danach nur konsequent. Die 1970er Jahre kannten wirtschaftlich ein Auf- und Ab. Die beiden Ölkrisen rissen jedesmal große Lücken in die Beschäftigungsquote, die auch durch den Erfolg der Nachfrageprogramme der Regierung Schmidt, die Wachstumsraten von 5% erbrachte, nicht wieder aufgefüllt werden konnte. Die Arbeitslosigkeit erreichte erstmals die Millionen-Marke und wollte auch nicht mehr signifikant davon abweichen. Gleichzeitig drangen die Migranten stärker ins öffentliche Bewusstsein, da sie nun endgültig aufs Bleiben eingerichtet waren. Es entwickelte sich ein unausgesprochener Konsens, der den "Ausländern" die schmutzigen und schlecht bezahlten Jobs wie Müllmänner, Kanalarbeiter, Servicekräfte und ähnliches zuwies, während die Deutschen die besseren Positionen besetzten. Wer die Arbeitswirklichkeit dieser Migrantenunterschicht hautnah erleben will, dem sei Günter Wallraffs "Ganz unten" zur Lektüre angetragen.

Heinz Kühn 1966
Ende der 1970er Jahre hatte sich die Erkenntnis, dass irgendwie mit dem Problem der Migranten und ihrer Integration  - ein gänzlich neues Konzept - umgegangen werden müsse, auch in Regierungskreisen verfestigt. Der ehemalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Heinz Kühn, einer der Pioniere sozialliberaler Zusammenarbeit, wurde zum ersten offiziellen Ausländerbeauftragten in Deutschland. 1979 veröffentlichte er ein Memorandum zu "Stand und Weiterentwicklung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik Deutschland". Darin stellte er die Lage der Integration dar und zeigte Leitlinien auf, anhand derer Integrationspolitik zu betreiben war. Es geschah - nichts. Dabei war der Bericht wegweisend. Er erkannte nicht nur bereits die Probleme, die heute beständig diskutiert werden; er erklärte beispielsweise auch, dass die "soziale Verantwortung…nicht eine Variable des Arbeitsmarkts sein kann" und dass ein "Angebot zur vorbehaltlosen und dauerhaften Integration" gemacht werden muss. Zu diesem Zweck schlug er ein Bündel von Maßnahmen vor: "Anerkennung der faktischen Einwanderung (bei fortdauerndem Ausschluß weiterer Anwerbung),  erhebliche Intensivierung der integrativen Maßnahmen vor allem für die Kinder und Jugendlichen, d.h. im Bereich der Vorschule, Schule und beruflichen Bildung, Anspruch der Jugendlichen auf ungehinderten Zugang zu Arbeits- und Ausbildungsplätzen, Optionsrecht der in der Bundesrepublik geborenen und aufgewachsenen Jugendlichen auf Einbürgerung, generelle Überprüfung des Ausländerrechts und des Einbürgerungsverfahrens mit dem Ziel größerer Rechtssicherheit und stärkerer Berücksichtigung der legitimen besonderen- Interessen der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien, Verstärkung ihrer politischen Rechte durch Einräumung des kommunalen Wahlrechts nach längerem Aufenthalt, Verstärkung der problemorientierten sozialen Beratung."

Das alles klingt sehr modern, wurde aber bereits 1979 formuliert. Die Ausländerpolitik unter der Regierung Schmidt stagnierte. Unter der folgenden schwarz-gelben Koalition, die die "geistig-moralische Wende" ausrief, machte sie sogar einen Schritt zurück. Die Konservativen gaben sich der Illusion hin, mit "Rückkehrerprämien" die ehemaligen Gastarbeiter zur Heimreise bewegen zu können. Man übernahm quasi die Umzugskosten, als ob Geld alleine noch die Motivation wäre wie in den Anwerbezeiten. Das jedoch erwies sich als fundamentale Fehleinschätzung. In ihren ganzen 16 Jahren konnte sich die schwarz-gelbe Koalition nicht dazu durchringen anzuerkennen, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden war. Als Anfang der 1990er Jahre die Zahlen der Asylbewerber im Rahmen des Zusammenbruchs des Ostblocks und dem Bürgerkrieg auf dem Balkan sprunghaft anstiegen fiel ihr nicht mehr ein als im Verbund mit der SPD das Grundgesetz zu ändern und gigantische Hürden für das Asylrecht aufzurichten. Gleichzeitig jedoch brachte sie auf dem ideologischen Fundament von Blut und Boden die so genannten "Volksdeutschen" ins Land zu holen, also Bewohner des ehemaligen Ostblocks, die irgendwann einmal deutsche Vorfahren gehabt hatten. Diese Menschen sprachen oftmals keinen Brocken Deutsch und waren seit der Zeit des Dritten Reichs nicht mehr in Kontakt mit Deutschen gewesen. Eine Integration war aber nicht vorgesehen, weil sie in dem Gedankengebäude von Kohl und seinen Apolegeten bereits Deutsche waren. Eine weitere Migrationswelle in den 1990er Jahren waren die so genannten "Kontingentsflüchtlinge" jüdischer Konfession, ebenfalls aus dem Ostblock. Die westlichen Länder vereinbarten, bestimmte Mengen - eben Kontingente - dieser Juden aufzunehmen. Diese ebenfalls nicht deutsch sprechenden, häufig orthodoxen Juden wanderten häufig in Gebiete mit größeren jüdischen Gemeinden ein und majorisierten diese, wo sie den ortsansässigen Juden große Probleme bereiteten, die bei der Integration dieser Neuankömmlinge ebenfalls allein gelassen wurden.

Frühes Multi-Kulit: Little Italy um 1900
Als dann die rot-grüne Regierung die Macht übernahm, wurde ein radikaler Wechsel in der Ausländerpolitik durchgeführt. Die zuständigen Grünen erkannten den Status Deutschlands als Einwanderungsland an, waren jedoch von einem großen Optimismus geprägt; es war die Hochzeit der Multi-Kulti-Bewegung. Visa wurden großzügig ausgegeben (das führte später zur Visa-Affäre Fischers) und mit der "Green Card" plante man die gezielte Einwanderung hochqualifzierter Migranten. Die Integration sollte sich in diesem Szenario, gewissermaßen das entgegengesetzte Extrem der Kohl'schen Verleugnung, wie von selbst erledigen, das Land offen und freundlich werden und davon profitieren. Es ist ein typisches Problem der Grünen, dass sie für ihre sehr wohlmeinenden und sympathischen Pläne keine Mehrheiten im Volk haben. Ausländerfeindlichkeit verschwand nicht, und der grüne Multi-Kulti-Idealismus versank im Strudel der Visa-Affäre. Heute ist Multi-Kulti ein Schimpfwort. Es war die Große Koalition, die die Fäden wieder aufnahm. Innenminister Schäuble initiierte die Islam-Konferenz, die zuerst zu einer reinen Showveranstaltung zu verkommen schien, inzwischen aber recht erfolgreich agiert. Auch die Integrationspolitik schrieb sie sich offiziell auf die Fahnen und unternahm erste, tastende Schritte in diese Richtung. So weit wie Heinz Kühn 1979 war ist man aber 2010 noch nicht.
Alle Bilder Wikimedia Commons. 

1 Kommentar:

  1. Schöner Abriss, der zugleich nachweist, dass es keines Sarrazins und seiner strunzdummen Thesen bedarf, um zu zeigen, dass Integrationspolitik kaum statt gefunden hat und man daher schon fast nicht von einem Scheitern sprechen kann -denn dafür hätte man es erstmal versuchen müssen. Allerdings ist man über Ansätze kaum hinaus gekomen.
    Was auch gar nicht zur Sprache kommt ist, dass ja die Integration auch erfordern würde, dass man den jungen Leuten eine Lebensperspektive biten muss -es sei denn man wäre damit zufrieden, sich bei den Argen Dolmetscher zu ersparen, weil dann auch die Deklassierten mit Migrationshintergrund ausreichend gut Deutsch sprechen, um die Hartz4-Anträge ausfüllen zu können.
    Seit Mitte der Siebziger ist Massenarbeitslosigkeit ein Problem und seit dieser Zeit gibt es keine Lösung dafür, aber jede Menge guter Ratschläge und reichlich Lügen über Ausmaß und Ursachen des Phönomens.
    Der Umgang mit dem Thema Integration scheint einem ähnlichen Prinzip zu folgen: Wir haben keine Lösung und beauftragen lieber eine PR-Agentur, die uns eine schöne Legende bastelt oder überlassen das Feld den Rassisten und Sozial-Eugenikern.

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