Von Stefan Sasse
Eine der zentralen Lehren, die Deutschland aus dem Fall in die Diktatur des Nationalsozialismus und die Barbarei des Zweiten Weltkriegs zog war, dass eine "Demokratie ohne Demokraten" nicht funktionieren konnte. Auf die Arbeiterbewegung musste man dabei nicht schauen: obgleich gespalten, hatte die SPD in jenen letzten Tagen der Weimarer Republik mehr Rückgrat bewiesen als alle bürgerlichen Parteien zusammen, waren die in der Sozialdemokratie und dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold organisierten Arbeiter bereit, selbst mit der Waffe in der Hand gegen die Revolution von rechts anzutreten - eine Bereitschaft, die von der SPD freilich nie auf die Probe gestellt wurde. Es war das Bürgertum, das Hitler zur Macht trug, das Bürgertum, das den Glauben in die Demokratie und Republik verloren hatte. Die unmittelbare Konsequenz musste sein, es in den neuen Staat besser einzubinden.
Das Bürgertum war von der Weimarer Republik doppelt enttäuscht worden. Die Hyperinflation von 1923, mit der sich der Staat der Altschulden aus dem Weltkrieg entledigt hatte (dieser war zu einem guten Teil mit Anleihen bei der Bevölkerung bezahlt worden, deren Rückzahlung den ohnehin gebeutelten Haushalt belastete) hatte alle Sparguthaben vernichtet. Der radikale Schnitt der Währungsreform ließ dann viele bei Null anfangen, während die Arbeiter - die ohnehin keine Sparguthaben besaßen, die abgewertet weren hätten können - vergleichsweise besser durch die Krise gekommen waren. Ab 1930 dann schlug die Weltwirtschaftskrise voll zu. Die Wirtschaft rutschte in eine tiefe Rezession, bald auch noch gefolgt von einer Bankenkrise. Die prozyklische Politik Brünings, die letztlich von allen demokratischen Parteien getragen wurde, verschlimmerte die Situation noch mehr. Das Bürgertum wurde nun von einer starken Welle der Arbeitslosigkeit getroffen, die zwar freilich auch die Arbeiterschaft traf. Diese jedoch war durch die enge Einbindung in das sozialdemokratische Milieu und Gewohnheit besser darauf vorbereitet und begab sich nicht in eine Anti-Haltung zum Staat, sofern sie nicht der moskauhörigen kommunistischen Bewegung angehörte.
Sollte die neue Bundesrepublik stabil bleiben, benötigte sie also die Unterstützung des Bürgertums ebenso wie der Arbeiterschaft. Letztere sammelte sich erneut unter dem Banner der SPD, die bis Bad Godesberg einen immer aussichtsloseren Kampf für ein eher planwirtschaftliches, nach traditionellen sozialdemokratischen Vorstellungen aufgebautes System kämpfte, das aber selbst in seiner reinen Form innerhalb des Grundgesetzes problemlos hätte bestehen können. Das Bürgertum wurde durch die große Sammlungsbewegung der CDU aufgefangen, die sich als bürgerlicher Gegenpol zur SPD konstituierte, jedoch eine relative Nähe zu vielen Positionen der Sozialdemokratie aufwies. Der Aufbau des Sozialstaats, der größtenteils im Umlageverfahren organisiert (Arbeitende versorgen nicht Arbeitende) und deshalb krisensicher war, sollte die Bürger enger an den Staat und die Demokratie binden. Dieses Kalkül, das kann wohl so gesagt werden, ging vollständig auf. Nicht nur löste spätestens die Rentenreform von 1957 das Problem der Altersarmut, das die Menschheit seit ihrer Entstehung geplagt hatte, auch andere Lebensrisiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Invalidität wurden nun erstmals in einem existenzsichernden Ausmaß abgesichert. Der Staat übernahm Aufgaben, die früher der Privatinitiative überlassen und deswegen für breite Bevölkerungsschichten unerschwinglich gewesen waren, etwa in der Krankenversorgung oder auf dem Feld des Transports und der Wohnraumsteuerung.
Zeitgleich mit dieser Schaffung des Sozialstaats als Bindekitt zwischen Staat und Bevölkerung setzte eine rapide Auflösung traditioneller Milieus ein, vor allem der sozialdemokratischen und der katholischen Milieus. Diese waren vormals stark und inklusiv gewesen und hatten mit ganz eigenen Netzwerken für ihre Mitglieder gesorgt. Mit dem neuen Sozialstaat war das nicht mehr notwendig. Das "Proletariat", das 1933 noch zum bewaffneten Kampf gegen den Nationalsozialismus bereit gestanden hatte, löste sich innerhalb eines Jahrzehnts praktisch vollständig auf und hörte auf als Gemeinschaft mit Klassenbewusstsein zu existieren. Das gleiche widerfuhr auch dem katholischen Milieu. Mit der Auflösung dieser Schichten und der bereits in der NS-Zeit erfolgten Zerstörung der alten dezidiert "großbürgerlichen" Klasse, die bereits in den Romanen Thomas Manns ihre persönliche Götterdämmerung zelebriert hatte, war der Weg frei zur Bildung einer neuen "Klasse", die größer war als alle, die Deutschland bislang gekannt hatte: der Mittelschicht.
Wie alle Klassen zuvor ist auch sie ein Produkt der Einbildung. Sie wird Wirklichkeit dadurch, dass Menschen an sie glauben, sich ihr zugehörig oder nicht zugehörig fühlen und für oder gegen sie agieren. Genauso wie wir heute vom "Proletariat" nur noch in Anführungszeichen sprechen, werden wohl zukünftige Generationen das Wort "Mittelschicht" nur noch in Gänsefüßchen stellen. Bei beidem handelt es sich um eine Konstruktion, die Halt geben soll und in dieser Zielsetzung auch erfolgreich ist. Die Besonderheit dieses Milieus allerdings ist seine schiere Größe. Wer zur Mittelschicht gehört, ist nie klar definiert worden; letztlich umfasst es alle, die ein Einkommen über der Armutsgrenze haben und nicht absurd viel verdienen, also alles von einem Jahresverdienst von (heute) etwa 30.000 Euro bis an die 300.000 Euro. Mit anderen Worten, die überwältigende Mehrheit der Arbeitnehmer ist mittelbar der Mittelschicht zugehörig. Ebenfalls zugehörig sind Kinder und Ehepartner von Angehörigen der Mittelschicht sowie Rentner, die eine substantielle Rentenhöhe erreicht haben.
Die Bedeutung der puren Größe dieses neuen Milieus kann kaum überschätzt werden. Nicht nur ist die Mittelschicht ein positiv besetzter Term. Das "Proletariat" hat sich stets als eine unterdrückte, ausgebeutete Klasse auf dem Weg zur Besserung gesehen, ebenso das katholische Milieu, das sich von den Protestanten bedrängt sah. Das Großbürgertum sah über ein halbes Jahrhundert lang dem eigenen Absinken in die Bedeutungslosigkeit ins Auge. Nicht so die Mittelschicht. Sie war das Habitat derer, die zufrieden waren, die materiell abgesichert vergleichsweise sorglos in die Zukunft blicken konnten. Sie waren der Träger der BRD. Dazu kommt, dass es keine opponierende Schicht gibt. Es gibt kein "Proletariat" mehr, das die "Bourgeoisie" als seinen natürlich Feind ansieht, keinen Gegenpol. Die Mittelschicht ist Licht ohne Schatten. Man kann sie zeitweise nach unten verlassen, wird dann jedoch vom sozialen Netz aufgefangen und möglichst schnell wieder in Arbeit gebracht (und Arbeit ist die zentrale Eintrittskarte zur Mittelschicht). Man kann sie nach oben verlassen, was in der herrschenden Ideologie dann der eigenen überdurchschnittlichen Leistungsbereitschaft zuzuordnen ist. Niemand wird sich je freiwillig selbst in die "Oberschicht" oder "Unterschicht" einordnen, sondern immer der "Mittelschicht" zugehörig sehen, einer Mitte ohne Endpunkte. Bei Lichte betrachtet ist es eine phantastische Konstruktion, doch hielt sie fast fünfzig Jahre lang die bundesrepublikanische Gesellschaft zusammen.
Noch einmal: der ursprüngliche, festeste Kitt, der das Konstrukt "Mittelschicht" und seine ungeheuer stabile Wirkung für das Staatswesen der Bundesrepublik - heute oftmals fälschlich dem Grundgesetz zugeschrieben - zusammenhielt, war der Sozialstaat. Sein Ausbau und die Absicherung der individuellen Lebensrisiken durch die Gemeinschaft schuf erst die Voraussetzung für die gewaltige Akzeptanz, die die Republik dann erhielt. Das ist wichtig um zu verstehen, wie die Mittelschicht in die Krise geraten konnte.
Die 1970er Jahre sind ein entscheidendes Scharnier in der Geschichte der bundesdeutschen Mittelschicht. Nie zuvor oder danach baute der Sozialstaat sein Leistungsspektrum so stark aus und war von einem Willen und Glauben zur und an die Machbarkeit einer gesellschaftlichen Planung und Steuerung beseelt. In der Theorie hätte es das goldene Jahrzehnt der Sozialdemokratie werden sollen, die in den 1960er Jahren eine fundamentale Wandlung von der Milieupartei zur Volkspartei der Mittelschicht hinter sich gebracht hatte und in der mittlerweile die Akademiker und nicht mehr die Arbeiter und Gewerkschafter den Ton angaben. Jedoch stieß man an Grenzen, äußere wie die Ölkrisen und die Stagflation, die den Handlungsspielraum abrupt einengten, vor allem aber innere. Die Mittelschicht hatte sich an ihre Situation und ihren Erfolg gewöhnt. Wie so oft folgt auf eine solche Phase der Sättigung die gefühlte Übersättigung und der abschließende Abstieg.
Die Mittelschicht selbst war der Bemühungen um ihr Wohl überdrüssig. Was erst wie ein Paradox erscheint, muss doch als Konstante der Natur des Menschen angesehen werden, in etwa genauso unerklärbar und doch vorhanden wie der Drang nach Krieg. Eine Reformmüdigkeit setzte ein, die wohl noch zusätzlich von der Tendenz der Regierungsstellen, jedes noch so kleine Gesetzeswerk als "Reform" zu bezeichnen um ihm zusätzliche Legitimation zu geben verstärkt wurde. Die CDU, deren Versuche mit dem Schüren einer Sozialistenfurcht oder der Präsentation als bessere Regierungspartei die SPD schnell wieder abzulösen und damit die Gunst der Mittelschicht zurückzugewinnen gescheitert waren, machte einen Wechsel in ihrer Geisteshaltung durch. Die Vertreter der alten katholischen Soziallehre, die den Grundkonsens des Sozialstaats mit den Sozialdemokraten durchaus teilten, gerieten in die Minderheit. Federführend wurden bald jene, die einem weniger starken Staat das Wort redeten, der die Bürger in "Eigenverantwortlichkeit" belassen solle. Diese Fraktion verdrängte bald auch in der FDP die Linksliberalen, die sich 1971 in Freiburg durchgesetzt hatten. 1982 folgte dann mit dem Misstrauensvotum gegen Schmidt der offizielle Bruch und Wechsel; die neue schwarz-gelbe Regierung rief die "geistig-moralische Wende" aus.
Für die Apologeten dieser neuen Richtung war der alte Mittelschichtenkonsens passé. Sie wollten die großzügigen Bande sowohl nach unten als auch nach oben lösen. Die Gehälter stiegen daraufhin in den 1980er Jahren für die entstehende Manager-Kaste deutlich an, gefolgt von großen Sprüngen in den 1990er Jahren und besonders zu Beginn des aktuellen Jahrzehnts. Gleichzeitig wurde die Grenze, die im alten Mittelschichtenkonsens nach unten gezogen worden war und gefühlt den Absturz deutlich erschwerte immer durchlässiger. Die Schaffung eines Niedriglohnsektors wurde unter Gerhard Schröder, einem Sozialdemokraten, sogar zum offiziellen Ziel der Regierung. Das gesamte Parlament blies zum Abbruch des Sozialstaats, und in dem folgenden Rennen ging es nicht mehr um das Ob, sondern nur noch darum, sich gegenseitig mit immer radikaleren Vorschlägen zu überbieten.
Auf die Mittelschichtenperzeption selbst hatte das erstaunlich wenig Einfluss. Bis heute gibt es praktisch niemand, der sich offen in die "Unterschicht" oder "Oberschicht" einordnen würde. Die pure Existenz einer Unterschicht wurde offensiv geleugnet, virulent geworden in der Studie der Ebert-Stiftung 2006, die ihre Existenz unter dem Begriff des "abgehängten Prekariats" verbrämte. Zur Mittelschicht gehören will jeder, auch wenn inzwischen breiten Bevölkerungsteilen klar geworden ist, dass sie es nicht tun. Von der Mittelschicht werden sie davon zu allem Überfluss auch noch mit Hohn und Anfeindungen übergossen, da die Vorstellung weiter vorherrscht, dass ein Herausfallen aus dem Mittelschichtenkonsens schwierig und deswegen selbstverschuldet ein müsse. Sie haben sich in Folge vom bundesrepublikanischen Konsens abgewendet. Bislang hatte das keine negativen Folgen, doch dürften diese nur eine Frage der Zeit sein.
Obwohl sich für die "Leistungsträger" (die übersteigerte Selbstwahrnehmung der derzeit herrschenden Klasse) die Mittelschichtenperzeption massiv geändert hat, ist sie für einen Großteil der Bevölkerung gleich geblieben. Das erlaubt es diesen Personen, unter Berufung auf die Mittelschicht ein Programm durchzuziehen, dass in Wahrheit die Oberschicht massiv begünstigt. Man denke nur daran, wie häufig sich die Westerwelles, Brüderles und Beises dieser Welt auf "die Mittelschicht" berufen, die es zu stärken gelte, und stelle dem dann die Politik der letzten Jahre gegenüber, die systematisch die Reichen bevorteilte und den ständig beklagten "Mittelstandsbauch" erst schaffte, der unter hoher Steuerbelastung ächzt und unter der kalten Progression leidet. Solange es jedoch so einfach ist, auf der Saite der Mittelschichtenromantik die richtigen Töne erklingen zu lassen wird sich das nie ändern lassen. Die Dekonstruktion solcher Mythen ist der erste Schritt zu einer Emanzipation des Geistes.
"Mein *Gefühl* sagt mir, ..."
AntwortenLöschenJa dann machen Sie doch was draus, gehns auffn Stachus oder fahrns mit der Tram wenn die Sonne scheint ins Nymphenburger
Oder gehns PILZE SAMMELN IM WALD wo auch immer ...
Diese Einstellung nutzen Politiker und Medien aus und werfen zusammen, was in vielen Kontexten nicht zusammen gehört.
AntwortenLöschenSiehe Steuerpolitik.
Die Politik sagt: "Die Mittelschicht sind Leistungsträger und die zahlen zuviel Steuern. Wir müssen die Steuern der Mittelschicht senken."
Klingt gut, gelle?
Ist es aber nicht.
Also wird die Einkommenssteuer gesenkt (danke, Kohl und später rot-grün!), die Verbrauchssteuern (MwSt, Ökosteuer...) aber erhöht und Kinderfreibeträge eingeführt (danke, rot-grün).
Was heißt das jetzt für die Mittelschicht?
Betrachten wir mal zwei Vertreter der Mittelschicht, nämlich Karl-Theodor Gutverdiener (mehr als 5.000€ /Monat netto) und Oskar Kleinverdiener (weniger als 2.500€ /Monat netto), beide haben Ehefrau und 2 Kinder.
Wie gesagt, beide gehören zur Mittelschicht.
Karl-Theodor Gutverdiener freut sich, dass er jetzt mehrere hundert Euro weniger an Einkommenssteuern zahlen muss. Die Erhöhung der Verbrauchssteuern stört ihn nicht so sehr, weil er ja ein hohes Einkommen hat und die 100€ mehr an MwSt und Ökosteuern locker verkraften kann. Zudem zahlt er wegen der Kinderfreibeträge nochmal weniger Steuern, denn pro Kind werden pro Jahr 4.000€ steuerfrei gestellt, d.h. von Karl-Theodors 60.000€ Jahresgehalt fallen sowieso nur 52.000€ unter die Einkommenssteuer.
Oskar Kleinverdiener hat kaum etwas von der Einkommenssteuersenkung, weil er jetzt nur minimal weniger Einkommenssteuer zahlen muss, aber die 100€ mehr an MwSt und Ökosteuern hauen bei ihm richtig rein. Und von den Kinderfreibeträgen hat er auch kaum was, denn ob bei ihm 30.000€ oder 22.000€ angerechnet werden, macht, wegen seiner niedrigen Einkommenssteuer kaum einen Unterschied.
Dennoch glaubt Oskar Kleinverdiener, zur Mittelschicht zu gehören und von Steuersenkungen zu profitieren.
An solchen Beispielen kann man sehen, dass der Begriff "Mittelschicht" in den Medien und von der Politik eingesetzt wird, um faktische Steuersenkungen für die Reichen und Reichsten als "Stützung des Gemeinwohls" zu verkaufen.
Reiche haben andere politische Interessen als Arme. Und daher sollte niemand behaupten, beide hätten dieselben Interessen und beide seien daher "Mittelschicht".
Meinetwegen kann sich jeder zur Mittelschicht zugehörig fühlen. Nur sollte man in einer Diskussion etwas sachlicher sein und genau fragen, welche Gruppen warum da eigentlich zur Mittelschicht dazugerechnet werden.
Deine Statistiken sind schön und gut, aber wenn du nicht erklären kannst, was du damit aussagen willst und warum, dann hast du nix verstanden.
Deine Statistiken beweisen im Grunde genommen nur, dass die Einkommen für einen Großteil der Bevölkerung, der sich für Mittelschicht hält, gesunken ist, während gleichzeitig die Abgabenlast (Steuern, KVersicherung...) für eben diesen Bevölkerungsanteil gestiegen ist.
Was du bisher nicht gezeigt hast, ist, für wen denn die Abgabenlast gesunken ist, also wer tatsächlich mehr vom Einkommen hat! Jene, die sich gerne auch als "Mittelschicht" bezeichnen, aber nur sehr wenig mit einem Durchschnittsverdiener oder einem Doppelt- oder Vierfach-Durchschnittsverdiener gemeinsam haben.
Lies mal nachdenkseiten dot de