Dienstag, 21. September 2010

Die Geschichte der SPD Teil 2/2: 1949-1999

 Von Stefan Sasse

Dies ist die Fortsetzung des ersten Teils.

Das Ergebnis der Wahlen 1949 hatte keinen klaren Sieger hervorgebracht. Die CDU und die SPD waren etwa gleich stark, dazu gab es einige weitere Fraktionen; in den einzigen bundesdeutschen Wahlen ohne 5%-Hürde waren neun ins Parlament eingezogen. Während die KPD den neuen Staat ablehnte (sie hatte als einzige Partei während der Verfassungsberatungen gegen die Annahme des Grundgesetzes gestimmt), standen die anderen vertetenen Parteien (die NSDAP-Nachfolgepartei SRP hatte es nicht ins Parlament geschafft und wurde 1950 verboten) hinter dem neuen, demokratischen Staatswesen. Nachdem keine Seite eine klare Mehrheit verbuchen konnte, stand nun die Wahl des ersten deutschen Kanzlers an. Da die CDU die meisten Stimmen wenn auch nur knapp auf sich vereinigte, führte Adenauer die Verhandlungen an. Zur Wahl standen drei Möglichkeiten: eine bürgerliche Koalition mit FDP, DP und Zentrum; eine große Koalition mit der SPD oder eine Volksfrontregierung unter Einschluss aller demokratischen Parteien. 

Kurt Schumacher auf Briefmarke zum 100. Geburtstag
Innerhalb der CDU gab es starke Strömungen zugunsten einer großen Koalition. Die bürgerliche Koalition würde im Parlament nur über die Mehrheit einer Stimme verfügen, also einen hauchdünnen Vorsprung haben (dass die CDU bald die anderen bürgerlichen Parteien majorisieren und in sich aufsaugen würde konnte zu diesem Zeitpunkt niemand ahnen). Unter diesen Umständen schien es besser, die Weimarer Koalition wieder aufleben zu lassen und damit den Beginn der zweiten deutschen Demokratie auf breitere Füße zu stellen. Auch die Volksfrontidee hatte damals, genauso wie die Sozialisierungsforderungen der SPD, eine breite Sympathisantenschicht und schien vielen die richtige Antwort auf die Bedrohung durch Faschismus und, nun vor allem, Kommunismus. Adenauer jedoch wollte davon nichts wissen, und der SPD-Vorsitzende Schumacher auch nicht. Beide bevorzugten klare Fronten und machten damit erst den Weg frei für das bald maßgebende System von Regierungsblock und Oppositionsblock im Parlament. Wechselnden Mehrheiten wie etwa in Skandinavien oder einer konsensualen Volksfrontregierung wie etwa in der Schweiz wurde eine klare Absage erteilt.

Bevor wir sehen, wie es in der ersten Legislaturperiode weiterging, müssen wir noch einmal einen kurzen Blick zurückwerfen und uns mit dem Begriff des Sozialismus in der entstehenden BRD  und den mit ihm verknüpften politischen Forderungen ansehen. Der Erfolg des Nationalsozialismus in den frühren 1930er Jahren fußte auch auf der Ansicht, dass der Liberalismus abgewirtschaftet habe, der die Weimarer Republik geprägt hatte und die damalige Generation mit gleich zwei existentiellen Wirtschaftskrisen - der Hyperinflation 1923 und der Weltwirtschaftskrise 1929 - geplagt hatte. Der Nationalsozialismus im Speziellen und der Faschismus im Besonderen hatten nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs ebenfalls keine Zukunft mehr, während die jahrelange Nazi-Propaganda und die Kriegserfahrungen an der Ostfront sowie die ersten propagandistisch verheerenden Landreformen im Osten den Kommunismus unmöglich gemacht hatten. Besonders die Feindschaft Kurt Schumachers hatten sich Ulbricht und seine Genossen mit der Zwangsvereinigung von SPD und KPD 1946 eingefangen, der eine kompromisslose Linie gegen die Kommunisten fuhr. 

In dieser Situation schien der Weg einer Sozialisierung der Schlüsselbetriebe und einer Volksfrontregierung die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Weder würde man die wirtschaftliche Macht erneut in die Hände einiger weniger Kapitalisten geben, noch würde man die Macht in die Hände einiger weniger Planwirtschaftler geben. Stattdessen würde man sie breit streuen. Die Geschichte der BRD wäre wohl völlig anders verlaufen, wenn diese Ideen umgesetzt worden wären. Bekanntlich kam es anders, als Ludwig Erhard im Alleingang die Weichen auf ein marktwirtschaftliches System stellte. Dessen sich in den 1950er Jahren langsam einstellender Erfolg entzog den von der SPD vertretenen planwirtschaftlichen Sozialisierungsideen mindestens ebensosehr den Boden wie die vollständige Diskreditierung des DDR-Systems durch die Massenflucht aus dem Osten und den Juni-Aufstand 1953. 

Für die SPD erwies sich diese Entwicklung als Desaster. Nach dem Tod Schumachers 1952, der mit seiner betont nationalen Rhetorik Boden gutmachen wollte, den die SPD durch die beständige Unterstellung "vaterlandslose Gesellen" zu sein verloren hatte die Alliierten deutlich von der SPD entfremdete und sie stattdessen die sich betont westorientiert gebende CDU unterstützen ließ, übernahm Erich Ollenhauer den Parteivorsitz. Er sah seine Aufgabe hauptsächlich darin, das Erbe Kurt Schumachers zu verwalten. Die SPD stagnierte und verlor gegenüber 1949 sogar Stimmen, während die CDU deutlich zulegte. Bei den Wahlen 1953 verfehlte sie die absolute Mehrheit nur um eine Stimme. Die Linie der SPD schien überholt und wie aus der Zeit gefallen. Dies hatte vorrangig zwei Gründe. Der erste war die Ignoranz gegenüber den geänderten außenpolitischen Rahmenbedingungen, die zweite das Verschwinden der klassisch-sozialdemokratischen Milieus. 

In der Außenpolitik gaben sich die Sozialdemokraten im Parteivorstand der Illusion hin, man könne zwischen den Machtblöcken verhandeln und so eine eigenständige, auf Wiedervereinigung bedachte Politik betreiben. Im entstandenen Gleichgewicht der im Kalten Krieg verwickelten Machtblöcke stand das aber völlig außer Frage. Weder erlaubten die USA eine eigenständige Politik der BRD außerhalb der NATO-Sphäre noch wollten die Sowjets der DDR das gestatten, obgleich sie der BRD mit der Stalinnote 1952 durchaus ein Danaergeschenk in den Korb zu legen wussten, das die Regierung jedoch nicht annahm. Sie hätte das ohnehin nicht können; ein souveräner Staat war die BRD zum damaligen Zeitpunkt ja nicht. Adenauer verstand das und arbeitete daran, diesen Zustand zu beenden, indem er die BRD in die Umarmung ihrer neuen Freunde warf. Die SPD dagegen kritisierte immer wieder offen die Politik der Besatzungsmächte. Dahinter steckt ein zu guten Teilen ein durchaus verständlicher menschlicher Zug. Viele in der SPD dürften zu diesem Zeitpunkt schwer enttäuscht gewesen sein. Sie waren es gewesen, die 12 Jahre Nazi-Dikatur ohne Beugung überstanden, oftmals im Exil weitergearbeitet hatten; sie waren es gewesen, die Göring im Reichstag ihr "Nein" entgegenschleuderten, während die Bürgerlichen ihren Frieden mit dem Regime gemacht und größtenteils kollaboriert hatten (Widerständler wie Stauffenberg und Goerdeler wurden damals noch als Verräter betrachtet und totgeschwiegen). Die Partei sah sich als legitime Erbin der deutschen Demokratie, doch verweigerte Deutschland ihr, dieses Erbe anzutreten und legte es stattdessen den Bürgerlichen in den Schoß. Das muss für viel Bitterkeit gesorgt haben. 

Ein anderer Grund für die anhaltenden Misserfolge der SPD (die ihre Stimmanteile bis 1961 kaum steigern konnte) war der Milieuschwund. Nicht nur lag ein guter Teil ihrer alten Hochburgen - Leipzig, Dresden, Freistadt, Breslau - nunmehr nicht mehr in der BRD. Die Nazidiktatur hatte auch bei ihrem klassischen Milieu tiefe Spuren hinterlassen. Zwar hatten die SPD-Führer in Exil und Untergrund viel Sozialdemokratisches bewahren können. Das galt jedoch nicht für das Milieu an sich, das zwölf Jahre lang irgendwie im Nazi-Regime leben musste. Und selbst wenn die Mehrheit der Arbeiter, die früher SPD gewählt hatten, 1945 wieder in den Schoß der Sozialdemokratie zurückkehrten - eine neue Generation war unter Eindruck der Diktatur, des Kriegs und der Trümmerzeit aufgewachsen und mit diesem klassischen Milieu überhaupt nicht mehr in Berührung gekommen. Hitlers Diktatur war gelungen, was Bismarcks Sozialistengesetze nicht auch nur im Ansatz vermocht hatten. Die SPD war gewissermaßen amputiert worden. 

Deckblatt eines Nachdrucks
Nach einer zweiten krachenden Wahlniederlage 1957, bei der die CDU die absolute Mehrheit errang, wurde Ollenhauers innerparteiliche Stellung unhaltbar. Zwar stürzte man ihn nicht. Sein Einfluss aber schwand. Stattdessen begann eine neue Generation von Männern den Ton in der Partei anzugeben, sie zu einem Teil im Exil gewesen waren, in jedem Fall aber jung und zu Weimarer Zeiten noch nicht allzu aktiv gewesen. Dazu gehörten beispielsweise Willy Brandt und Herbert Wehner, aber auch zahlreiche andere Figuren. Unter deren Einfluss entstand auf dem SPD-Parteitag 1959 in Bad Godesberg ein neues Programm, das bis heute maßgeblichen Einfluss auf die SPD besitzt wie kaum ein anderes Parteiprogramm zuvor oder danach. In diesem Programm verabschiedete sich die SPD endgültig auch programmatisch vom Klassenkampf, fast 60 Jahre nach dem Revisionismusstreit Kautskys und Bernsteins. Sie stellte sich voll hinter den Staat in seiner jetztigen Form, das heißt: mit Sozialer Marktwirtschaft, mit NATO-Mitgliedschaft, mit Westbindung. Für die Partei war das revolutionär. Einen Automatismus, der von hier zur Regierungsbildung 1969 führte, gab es allerdings nicht. Tatsächlich sollte die SPD zwar einen langsamen Aufwärtstrend erleben; der allerdings hielt bereits seit 1957 an. Das Godesberger Programm hatte Langzeitauswirkungen, die sich erstmals zur Bundestagswahl 1961 in Ansätzen bemerkbar machten und den Aufstieg der Sozialdemokratie von der Klassenpartei zur Volkspartei (Franz Walter) mit sich brachte. 

Im Wahlkampf 1961 wurde erstmals der damals noch junge Berliner Oberbürgermeister Willy Brandt als Kanzlerkandidat aufgestellt. Man wollte damit auch an den Erfolg Kennedys in den USA anknüpfen und ein jugendliches Image aufbauen, das man dem greisen Adenauer entgegensetzen konnte. Andererseits mangelte es in dieser Zeit allerdings an Führungsfiguren, die geeignet gewesen wären. Herbert Wehner hätte zwar das politische Format besessen, lehnte aber weise ab. In seiner Rolle als Einpeitscher der Partei, der eine gnadenlose Fraktionsdisziplin durch- und seinen Gegnern im Bundestag hart zusetzte würde er für breite Schichten außerhalb der SPD-Stammklientel nur schwer vermittelbar sein, wogegen Brandt mit seinem Bohème-Stil und seiner Jugendlichkeit so gar nicht typisch sozialdemokratisch und damit für das neue Publikum, das man nun anstrebte, leichter zu verkaufen zu sein. 

Willy Brandt 1980
Der Wahlkampf 1961 ließ die SPD allerdings erneut enttäuscht zurück. Zwar flogen Willy Brandt die Sympathien in der Lage des Mauerbaus, der die Wahlen überschattete, nur so zu. Dies schlug sich allerdings nicht in allzuviel zusätzlichen Stimmen für seine Partei nieder, lediglich in Berlin hielt sich die SPD unangefochten. Immerhin meinte man einen Trend ausmachen zu können, der bald einen ganz eigenen Mythos gebar: der "Genosse Trend" würde die Partei unaufhaltsam an die Macht bringen. Tatsächlich zeigte sich eine Ermüdung der Deutschen zumindest mit Konrad Adenauer, der schließlich 1963 auch zurücktrat und Platz für Ludwig Erhard machte, der als Kanzler allerdings eher glücklos agierte. 

Die Wahlen 1965 brachten für SPD und CDU Zugewinne, für die FDP dagegen Verluste. Erneut schlossen CDU und FDP ein Bündnis, nachdem die SPD vorher mit den Freidemokraten ebenso wie mit der CDU Verhandlungen geführt hatte. Dabei zeigte sich zum ersten Mal ein elementarer Richtungsstreit innerhalb der SPD, die die folgende Epoche prägen sollte: während einige wie Willy Brandt für eine sozialliberale Koalition mit der FDP eintraten (an die absolute Mehrheit dachte niemand), waren andere wie Herbert Wehner oder Helmut Schmidt für eine Große Koalition. Ihrer Meinung nach war die SPD das Regieren noch nicht gewöhnt. Es bestanden in der Bevölkerung breite Ressentiments gegen die Sozialdemokraten, die seit 1930 keine Regierungsverantwortung auf nationalstaatlicher Ebene mehr getragen hatten. Diese sollten in einer Großen Koalition abgebaut werden, während man gleichzeitig eine Wahlrechtsreform durchführte und zum Mehrheitswahlrecht überging. Dieses würde ein Zwei-Parteien-System schaffen und die FDP liquidieren. Diese erschien den Vertretern jener Richtung als unzuverlässig, ja gefährlich instabil, eine Sicht, die nicht von ungefähr kam. Die FDP machte zu jener Zeit ebenfalls einen Richtungsstreit durch, der deutlich tödlicher und zerstörender als der der SPD war. Es war der Streit zwischen den Nationalliberalen unter Erich Mende und den eher Progressiv-Liberalen unter Scheel. Welche der beiden Richtungen die Oberhand behalten würde, wusste niemand.

Grass bei Brandt'scher Gartenparty
Sowohl die Wahl 1961 als auch 1965 hatte jedoch einige bis dato ungewohnte Akteure erlebt. 1961 hatte sich Günter Grass öffentlich für die Wahl Willy Brandts und der SPD ausgesprochen. 1965 hatte er bereits einige andere Intellektuelle rekrutiert und tingelte mit ihnen durch das Land, um für die Wahl der SPD Werbung zu machen. 1968 gründete er mit Freunden die "Sozialdemokratische Wählerinitiative", die einen beachtlichen Anteil der Intellektuellen jener Tage in sich vereinigte und aktiv für die SPD Wahlkampfwerbung betrieb, ohne sich in die Parteistrukturen zu integrieren (was für die SPD nicht immer leicht war, da die SWI  sich nicht an die offizielle Parteilinie gebunden fühlte und beispielsweise offen für die neue Ostpolitik und die Anerkennung der Realitäten plädierte, aber effektiv im Namen der Partei sprach). Was war geschehen? Die SPD war für eine Schicht attraktiv geworden, die nie zuvor SPD gewählt hatte. Intellektuelle, die sich selbst progressiv oder links verorteten und von der Politik der CDU enttäuscht waren, legten ihre bisherige unpolitische Haltung ab und erklärten sich offen für eine Partei. Diese Partei war die SPD, die Strahlkraft für diese Schichten gewonnen hatte, die weder die verkrustete CDU noch die eher nationalliberal geprägte FDP aufbieten konnte. Dadurch wurde die SPD plötzlich zu einer Wahloption für Menschen, die nicht der Arbeiterschicht angehörten - also Angestellte und Beamte. Die Erschließung dieser Schichten war es, die die SPD zur Volkspartei werden ließ, eine Entwicklung, die sich in den 1960er Jahren Stück für Stück vollzog und 1972 ihren Abschluss fand.

Als die FDP im Herbst 1966 das Bündnis mit der CDU aufkündigte und Koalitionsverhandlungen mit der SPD aufnahm, schienen sich alle Befürchtungen Wehners und Eberts zu bestätigen. Brandt versuchte, die Gelegenheit zu ergreifen, konnte sich aber gegenüber den beiden anderen nicht durchsetzen, die für ein Bündnis mit der ebenfalls um sie werbenden CDU votierten - und damit auch für die Wahlrechtsreform. 1966 wurde so die erste Große Koalition auf Bundesebene geschlossen. Diese Koalition hielt fast 90% der Stimmen im Parlament; die oppositionelle FDP war so schwach, dass ihr nicht einmal grundlegende Rechte wie die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zustanden. Eine effektive parlamentarische Opposition war so kaum möglich. Der Wille der CDU, die FDP zu vernichten und damit die letzte bürgerliche Konkurrenz zu beseitigen (nachdem man bereits das Zentrum, die DP, den BHE und andere aufgesogen hatte) war offenkundig und trieb die FDP schon aus reinem Selbsterhaltungstrieb ins Lager der SPD, obgleich die inhaltlichen Schnittmengen dort sicherlich nicht größer als mit der CDU waren. Wenn heute die Ostpolitik zum alles entscheidenden politischen Inhalt jener Tage hochstilisiert wird so überdeckt das, dass es für die FDP damals ums blanke Überleben ging.

Für die SPD öffnete sich damit eine Alternative zur Wahlrechtsreform. Im Verlauf des Jahres 1968 wurde der Partei bei dem Gedanken daran zunehmend mulmiger; Modellrechnungen und Studien ergaben für den Fall der Einführung keinesfalls sichere Mehrheiten für die SPD, die sich daraufhin sehr zum Ärger der CDU von der Idee wieder entfernte. Während Wehner und Schmidt noch versuchten, die Reform durchzubringen, steuerte Brandt - die sozialliberale Koalition fest im Blick - bereits in die andere Richtung. Doch die Verwerfungen der Jahre 1967 und 1968 ließen die Frage bald in den Hintergrund treten, denn die APO formierte sich.

Demonstrationsaufruf
Dieses Kürzel steht für "Außerparlamentarische Opposition", ein Sammelbegriff für die damals entstehende Protestbewegung, der politisch das Fehlen einer echten parlamentarischen Opposition beklagte. Da manche SPD-Kreise bereits von einer Fortsetzung der Großen Koalition nach 1969 redeten und zudem die Einführung der Notstandsgesetze betrieben wurden, fürchtete die Protestbewegung eine Rückkehr in die Endzeit Weimars und die effektive Beendigung der Demokratie. Wir wissen heute, dass dies nicht passierte; bis dato wurden die Notstandsgesetze nicht angewandt. Die Diskussion war allerdings keinesfalls überflüssig. Das Beispiel Weimars vor Augen war eine solch undemokratische Sondergesetzgebung immer gefährlich, und besonders die Sozialdemokraten ließen in jenen Tagen das Feingefühl arg vermissen, was der Protestbewegung umso mehr Nahrung brachte. Es soll hier nicht um 1968 gehen. Diese Bewegung war viel zu facettenreich, um hier auch nur in Ansätzen beschrieben werden zu können. Auf die SPD hatten die Ereignisse recht wenig Einfluss, sieht man davon ab, dass Brandts Machtbasis in Berlin 1967 geschwächt wurde, weil der Bürgermeister wegen der Ermordung Benno Ohnesorgs zurücktreten musste.

Der Einfluss der Bewegung auf die Ableger der SPD des Sozialitischer Deutscher Studentenbund (SDS) und Jungsozialisten (Jusos) waren gravierender. Der SDS war bereits 1961 als mit der SPD unvereinbar gebrandmarkt und von den Parteistrukturen ausgeschlossen worden und erreichte durch das Engagement Rudi Dutschkes 1968 eine kurze, das Land auch dank einer beispiellosen Hasskampagne der Springerpresse stark polarisierende Wirkung. Die SPD hatte 1960 den Sozialdemokratischen Hochschulbund SHB gegründet, der sich aber in der Protestbewegung ebenfalls radikalisierte und 1971 aus der SPD ausgeschlossen wurde. Auch die Jusos radikalisierten sich. Während die SPD selbst in einer fast merkwürdigen Ruhe verharrte, schienen alle ihre Jugendbewegungen in geradezu fiebriger Erregung zu sein. Das hatte seine Gründe, denn anders als in Frankreich gab es in Deutschland keine Solidarisierung der Proteste mit den "arbeitenden Massen", sprich: den Gewerkschaften. Dadurch fehlte ihnen nicht nur die Massenbasis, sondern auch der parlamentarische Arm, der nach Lage der Dinge nur die SPD sein konnte. Die aber blieb "ordentlich" und verweigerte sich den Protesten, was diese nur umso mehr anheizte. Erneut gab es eine Grundsatzfrage, die die SPD spaltete. Besonders Schmidt und Wehner sprachen sich sehr deutlich gegen die rebellischen Jugendlichen aus, wollten die aufrüherischen Verbände ausschließen und fürchteten, dass sie die Politik der SPD, sich als seriöse Alternative zur CDU zu etablieren, konterkarieren würden. Betrachtet man die weitverbreitete Abscheu in bürgerlichen Kreisen gegenüber der Bewegung, die in der Springerpresse ja nur ihren offensichtlichsten und ekelhaftesten Widerhall fand, war diese Furcht zumindest nicht aus der Luft gegriffen.

Juso-Logo
Willy Brandt verfolgte allerdings einen anderen Ansatz, mit dem er sich schließlich halbwegs durchsetzen konnte. Er behielt sowohl die Jusos als auch den SHB (der erst 1971 nach zunehmender Radikalisierung ausgeschlossen wurde) in der Partei und suchte den Dialog mit den Protestlern, was wahrlich nicht immer einfach war, da diese oftmals bereits den bestehenden Parlamentarismus und das marktwirtschaftliche System ablehnten. Die SPD aber hatte sich gerade auf den Boden eben dieser beiden Systeme gestellt - eine wahrlich schwierige Situation. Es ist eine von Brandts Leistungen, dass ihm wenigstens halbwegs die Integration der rebellischen SPD-Jugend gelang. Dies dürfte entscheidenden Anteil an der Marginalisierung der 68er Bewegung gehabt haben, die mit Ausnahme der radikalsten Kerne bald wieder in den Mainstream eintauchte. Die Jusos blieben zwar ein beständiger unruhiger Teil der SPD, der die Öffentlichkeit immer wieder mit radikalen Forderungen verschreckte, aber Brandt setzte sich mit seiner toleranten Linie durch und behielt damit Recht. Unter Schmidt, der nicht so tolerant war, würde die SPD deutlich stromlinienförmiger werden.

1969 standen die nächsten Wahlen an. Bevor wir uns ihnen zuwenden, müssen wir einen Blick auf das Kabinett Kiesinger werfen. Außenminister und Vizekanzler war Willy Brandt, Herbert Wehner war Minister für Gesamtdeutsche Fragen, Karl Schiller Wirtschaftsminister (alle SPD). Auf Seiten der CDU waren Franz Josef Strauß Finanzminister und Gerhard Schröder Verteidigungsminister. Helmut Schmidt war Fraktionsvorsitzender der SPD, Rainer Barzel der der CDU. Es waren diese Personen, die die Politik der nächsten Jahre entscheidend bestimmen sollten, politische Schwergewichte allesamt. Brandt arbeitete, teils im Verbund mit Wehner, die Grundlagen der Ostpolitik aus, die aber am Ende am Widerstand der CDU scheiterten. Wehner verband ein überaus vertrauensvolles Verhältnis zu Kiesinger, das durch Brandts - immerhin des Kanzlerkandidaten! - sozialliberalen Kurs belastet wurde und diesen seinerseits belastete. Das gleiche gilt für Helmut Schmidt als Fraktionsvorsitzender, der zusammen mit Barzel die Koalition managte; in den aufgewühlten Zeiten wahrlich eine Sysiphosarbeit. Die CDU wurde konstant vom rechten Rand gedrängt, die SPD vom linken. Rigide behielten Schmidt, Wehner und Barzel aber die Zügel in der Hand und pflügten den Protest geradezu unter, der sich umso mehr außerparlamentarisch entlud. Für die Wahl 1969 bedeutend wurden aber Karl Schiller und Franz Josef Strauß. Schiller, etablierter und angesehehner Wirtschaftsprofessor, verlieh der SPD während der Großen Koalition das, was für Wahlen in einer parlamentarischen Demokratie entscheidend ist: die Aura von Wirtschaftskompetenz. Plötzlich war der alte Mythos von den Linken, die nicht mit Geld umgehen können, begraben. Stattdessen beendete Schiller im Verbund mit Finanzminister Strauß die erste bundesdeutsche Rezession überzeugend mit keynesianischen Methoden und stellte die Vollbeschäftigung her. Erst Anfang 1969 erkannte die CDU, wie gefährlich ihr das wurde, und Strauß, der bisher eher den gelehrigen Schüler Schillers markiert hatte, ging auf Gegenkurs.

Karl Schiller 1969
Doch es war zu spät. Schiller setzte innerhalb der Fraktion durch, dass die SPD sich für eine Aufwertung der D-Mark einsetzte, die - wir erinnern uns - noch immer aus der Wirtschaftswunderzeit rapide unterbewertet war und für starke Ungleichgewichte in der Wirtschaft sorgte. Die CDU, am Tropf der Exportwirtschaft, lehnte das ab. Ausgerechnet mit diesem vergleichbar komplexen und unaufregenden Thema ging die SPD in den Wahlkampf 1969, indem sie innerhalb des Kabinetts kühl den Konflikt plante, zuspitzte und die Koalition darüber in der Sommerpause "scheitern" ließ. Die SPD hatte damit ein ordentliches Profil bewiesen. Gleichzeitig litten CDU und FDP an der Bedrohung durch die NPD, die in Umfragen um die 5%-Hürde herumtanzte. Das Wahlergebnis 1969 war auch entsprechend knapp. Über 4%, aber unter 5% wählten die NPD und kosteten damit hauptsächlich die CDU Stimmen, die dies ihrer Konzilianz in der Frage der Ostpolitik zuschrieb und in der Frage noch unbeweglicher wurde. Wahlhilfe erhielt Brandt durch die Bundespräsidentenwahl. Die CDU versagte sich einem gemeinsamen SPD-Kandidaten, obwohl die SPD bei der letzten Wahl den CDU-Kandidaten gestützt hatte. Damit musste die SPD auf die Stimmen der FDP bauen, die sie auch erhielt (Walter Scheel organisierte dies innerhalb der zerstrittenen Liberalen). Der gemeinsame Kandidat Heinemann sprach denn auch das berühmte Wort vom "Stück Machtwechsel", das sich vollzogen hatte, und positionierte sich für eine sozialliberale Koalition.

In der SPD entschied sich nun der Richtungsstreit. Brandt zurrte den Kurs der Partei auf ein Bündnis mit der FDP fest, sehr zum Unwillen von Schmidt und Wehner. Die sozialliberale Koalition würde im Parlament nur eine sehr dünne Mehrheit haben, die äußerst unsicher war - die FDP war noch immer in ihrem eigenen Richtungsstreit zerrissen. Schmidt und Wehner befürchteten, dass die Koalition über der FDP zerbrechen würde, eine Furcht, die nicht unbegründet war - bereits 1971 hatte die Koalition nur noch eine hauchdünne Mehrheit, ab 1972 überhaupt keine mehr. Doch Brandt ließ sich nicht beirren. Die SPD begann mit einer ambitionierten Reformpolitik, die zahllose Verbesserungen der sozialen Lage und bei den Bürgerrechten vorsah. Brandt prägte hier das Wort von "Mehr Demokratie wagen" und versuchte eine stärkere Partizipation der Bürger zu erreichen. Das lag durchaus im Einklang mit seiner Haltung etwa gegenüber den Jusos.

Eines der SPD-Kernprojekte jener Epoche war die Bildungsexpansion, die einen gewaltigen Eindruck in der deutschen Gesellschaft hinterließ und bis heute ihre Schatten wirft. Unter dem Eindruck der "Bildungskatastrophe" der 1960er Jahre hatte die SPD es zum Thema gemacht, die Bildungsinstitutionen massiv auszubauen und zu reformieren. Neue Schulen und Universitäten wurden gebaut, und der Anteil der Abiturienten und Studenten an der Gesamtbevölkerung stieg stetig. Durch massive Förderung wurde so erstmals auch den bisherigen Arbeiterhaushalten ein Zugang zu höherer Bildung ermöglicht, was das Gesellschaftsgefüge für immer veränderte und gewaltige Kosten verursachte, die besonders die FDP bald nicht mehr zu tragen bereit war, so dass die Reform letztlich unvollendet blieb.

Bei entscheidenden Themen jedoch wie der Reform der betrieblichen Mitbestimmung stieß die SPD auf erbitterten Widerstand der FDP. Beherrschend wurde in der Legislaturperiode jedoch bald die neue Ostpolitik, die von Brandt und Egon Bahr so schnell wie möglich unter Dach und Fach gebracht werden sollte, solange die Koalition noch hielt. Selbst ihre Gründer befürchteten, dass sie das Ende der Legislatur nicht erleben werde.

Rainer Barzel im Wahlkampf 1972
Bereits 1971 traten einige FDP-Parlamentarier zur CDU über und nahmen dabei ihr Mandat mit. Die Handlungsfähigkeit der Regierung wurde empfindlich eingeschränkt, doch sie machte weiter. 1972 sollten die Ostverträge ratifiziert werden; weitere Abgeordnete der FDP und auch einer der SPD verließen die Koalition zur CDU. Dadurch hatten beide Fraktionen gleich viel Stimmen; ein Patt war erreicht, die Regierung nach drei Jahren fieberhafter Tätigkeit handlungsunfähig. Dabei hatte sie neben den Ostverträgen, die heute die Geschichtsschreibung dominieren, bereits eine ganze Reihe von inneren Reformen auf den Weg gebracht. Ihre Bilanz konnte sich durchaus sehen lassen, einziger Wermutstropfen war eine moderat gestiegene Inflation, die von der CDU weidlich unter dem Motto der Stabilität ausgenutzt wurde. In der bestehenden Situation gab es für die Regierung kaum mehr einen Ausweg. Neuwahlen wären über eine verlorene Vertrauensfrage möglich, aber das war dem Wähler schwer zu vermitteln (tatsächlich ist das Verfahren paradox; das Problem würde sich 1983 und 2005 wiederholen). In dieser Situation ergriff der CDU-Fraktionsvorsitzende Barzel die Initiative.

Er stellte erstmals in der Geschichte der BRD ein konstruktives Misstrauensvotum, jener Mechanismus, der die Abwahl des alten Kanzlers erlaubte, sofern ein neuer gewählt und die Regierung damit handlungsfähig blieb. Bei Stimmengleichheit beider Lager und der erklärten Bereitschaft mindestens eines FDP-Parlamentariers, Barzel zu wählen, schienen die Chancen auf das Unternehmen beherrschbar. Barzel spielte jedoch va banque. Nur ein einziger CDU-Hinterbänkler, der sich an ihm rächen wollte, konnte das Unternehmen scheitern lassen. Die Lage war gespannt wie nie, die Emotionen kochten hoch. Nicht zu Unrecht wurde Barzel vielfach vorgeworfen, gegen die Koalition putschen zu wollen und so das Ergebnis einer demokratischen Wahl im Nachhinein zunichte machen zu wollen, denn seine Mehrheit basierte lediglich auf Überläufern. Es ist das erste Mal in der Geschichte der BRD, dass die im Grundgesetz postulierte und wirklichkeitsfremde Unabhängigkeit des Mandats zu einem ernsten Problem wurde. Noch bei der Verkündung des Ergebnisses der geheimen Abstimmung wusste niemand im Plenarsaal, wie sie ausgehen würde. Man rechnete mit einer Mehrheit von einer Stimme für Barzel oder mit einem Unentschieden, was seiner Niederlage gleichkäme. Überraschenderweise und trotz der Tatsache, dass mindestens ein Abgeordneter des Regierungslagers seine Stimme für Barzel abgab, fehlten Barzel am Ende zwei Stimmen aus seiner eigenen Fraktion. Wir wissen heute, dass dabei Bestechung im Spiel war. Herbert Wehner hatte einige labile Abgeordnete bei der CDU ausgemacht, und unabhängig davon hatte auch die Stasi, um die für sie wichtige Ostpolitik fürchtend, Schmiergelder bereitgestellt. Das jedoch kam erst deutlich später heraus.

Barzel hatte alles auf eine Karte gesetzt und verloren, die Koalition erhielt dadurch Aufwind, wenngleich auch nicht in den Umfragen der Wählergunst. Die lähmende Ungewissheit und Furcht, die vorher in ihren Reihen gelegen hatte wich nun geradezu einer Euphorie. Brandt stellte die Vertrauensfrage. Alle Mitglieder der Fraktionen votierten für ihn; die Kabinettsmitglieder blieben der Abstimmung aber fern, so dass sie planmäßig verloren ging. Neuwahlen wurden für November anberaumt. Der Wahlkampf begann.

Die CDU malte sich dabei immer noch gute Chancen aus. Hinter ihr stand praktisch die versammelte Macht der Großindustrie, die sich in nun 20 Jahren CDU-Herrschaft an eine großzügige Berücksichtigung ihrer Interessen gewöhnt hatte und bereit war, große Summen zu investieren, um sie wieder an die Macht zurückzubringen. Außerdem war praktisch jeder, der sich als irgendwie national gesinnt verstand, gegen die SPD eingestellt. Die FDP, so schien es, war akut vom Scheitern an der 5%-Hürde bedroht. Doch unter  Leitung ihres Wahlkampfmanagers Albrecht Müller, der heute das Internetportal NachDenkSeiten betreibt und den Wahlkampf aus seiner Sicht hervorragend in seinem Buch "Willy wählen '72" beschreibt, riss die SPD das Steuer vollständig herum und schuf einen Präzedenzfall, der bis heute unerreicht ist. So lohnt es sich auch, beim Wahlkampf 1972 einen Moment zu verweilen.

Brandt/Scheel im Wahlkampf 1972
Die CDU setzte auf ein recht aggressives Wahlkampfkonzept, das hauptsächlich die mangelnde Stabilität der Regierung angriff. Hierzu bediente sie sich der moderat gestiegenen Inflation, indem sie gezielt Erinnerungen an die Hyperinflation 1923 wachrief, warf der SPD vor, den Wirtschaftsstandort Deutschland ruinieren zu wollen, spielte mit dem Schreckgespenst "Sozialismus" und Verlust der Freiheit und opponierte gegen die Ostverträge. Diese waren jedoch noch 1972 unter Druck der Realitäten doch ratifiziert worden, wobei die CDU entgegen der Absicht Barzelns sich enthielt anstatt zuzustimmen. Denn es zeigte sich bereits im Vorfeld des Wahlkampfs, dass die Ostpolitik ein Verliererthema war und sich hervorragend zur Mobilisierung der Wähler nutzen ließ.

Das Konzept der SPD war geradezu überragend und legte es darauf an, auf allen entscheidenden Feldern die Initiative zu behalten. Zu diesem Zweck etikettierte man die Ostpolitik als "Friedenspolitik" (wer will schon gegen den Frieden sein?) und schaltete auf Abteilung Attacke. Aggressiv strich man die Erfolge der eigenen Regierungsarbeit, proklamierte überragende Erfolge bei den Reformen und widerlegte die CDU-Vorwürfe. Dieses Konzept bewirkte, dass der Wahlkampf zu einem sehr um Sachthemen kreisenden (nicht zu verwechseln mit sachlichem!) Wahlkampf wurde. Die SPD ging die Vorwürfe der CDU direkt an und widerlegte sie etwa in einer Kleinanzeigenkampagne in der BILD. Dadurch wurden dem Publikum die Argumentationsmuster geliefert, die es für eine politische Debatte im Sinne der SPD brauchte. Gleichzeitig gingen die Sozialdemokraten in die Offensive und thematisierten offen die Finanzierung des CDU-Wahlkampfs, die dahinter stehenden Interessen und die Medienmacht. Das hatte es nie zuvor und auch danach nicht gegeben. Diese Strategien resultierten in einer Bürgerbeteiligung und politischen Partizipation, die ihresgleichen suchte. Mit einer unheimlich schnellen Logistik gelang es der SPD außerdem, schneller als die CDU auf aktuelle Nachrichten und Ereignisse zu reagieren und so die Meinungshoheit zu behalten. 

Brandt und Guilleaume in Niedersachsen 1974
Der Wahltag sah dementsprechend einen hohen Sieg der SPD, die mit über 45% ihr bislang bestes Wahlergebnis erreichte und erstmals stärkste Fraktion wurde, sowie einen ebenfalls respektablen Erfolg der FDP, die über 8% der Stimmen erlangte. Brandt sah darin, nicht zu Unrecht, eine plebiszitäre Bestätigung seines bisherigen Kurses. Schmidt und Wehner sahen das jedoch nicht so und nutzten eine schwere Erkrankung Brandts in den Wochen nach der Wahl, um in den Koalitionsverhandlungen ihr Personal und ihre Richtung unterzubringen, was ihnen auch glänzend gelang. Brandt verlor so nicht nur seinen Sprecher Conny Ahlers, sondern auch seinen Kanzleramtsminister Horst Ehmke. Das Loch, in das das neue Kabinett Brandt dann 1973 fiel, in dem nur wenig gelingen wollte und alles etwas schleppend vor sich ging, ist davon nur die logische Konsequenz. Die FDP dominierte oftmals die Richtungsstreits in der Koalition, eine Stärke, die ihr vom Wahlergebnis genausowenig zukam wie die hohe Zahl an Ministerposten. Brandt erholte sich nicht wirklich, und als 1974 zutage trat, dass sein persönlicher Referent Guilleaume ein Stasi-Spion war, übernahm er persönlich die Verantwortung und trat zurück, ein Schritt, den nicht einmal seine Gegner als notwendig erachtet hatten, die eher auf einen Rücktritt Ehmkes spekuliert hatten.

So kam 1974 unverhofft Helmut Schmidt ans Ruder, der Karl Schiller als Wirtschaftsminister nachgefolgt und auch die Kompetenzen des Finanzministeriums auf sich vereinigt hatte; ein starker Mann in der Regierung, der beständig an Brandt herumkrittelte und mit dem Kurs unzufrieden war, ihn dann aber doch irgendwie mittrug. Nun konnte er ihn selbst gestalten, und er kam in ein Land, das nach den ökonomischen Veheerungen der ersten Ölkrise 1973 erstmals mit einer Arbeitslosigkeit im siebenstelligen Bereich zu kämpfen hatte. Unter der Regierung Schmidt wurde die Arbeit der Regierung deutlich langsamer. Für die Brandt'schen Visionen einer besseren deutschen Gesellschaft hatte er nichts übrig. Sein Ausspruch "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen" ist dafür beispielhaft. Unter ihm verwaltete die SPD im Großen und Ganzen das Erbe der Reformpolitik, stutzte ihr finanziell die Flügel und hielt das Wirtschaftswachstum dank Konjunkturprogrammen trotz Zusammenbruch von Bretton Woods und zweier Ölkrisen 1973 und 1979 auf konstant hohem Niveau. Gerade die Visionslosigkeit Schmidts aber wuchs sich zu einem ernsthaften Problem aus. Die massive Bürgerbeteiligung, die die SPD 1972 nach oben gespült hatte, schlief ein. Ihr Potential, das Parteigrößen wie Schmidt und Wehner immer unheimlich gewesen war, lag brach. Eine breite intellektuelle Front, die sich für Schmidt wie für Brandt engagiert hätte, was undenkbar.

Diese Atmosphäre erklärt auch den größten Fehler, den Schmidt in seiner Kanzlerschaft beging. Getreu seiner früheren Linie machte er kurzen Prozess mit Linksabweichlern, anstatt sie wie Brandt tolerant in der Partei zu halten. Er war der Meinung, dass solcher Radikalismus Unsinn sei und zudem die Stellung der Partei in der Mittelschicht gefährde. Das mochte zwar sein, doch die SPD entfremdete so zu diesem Preis die Unangepassten und Alternativen, die sie unter Brandt an sich hatte binden können. In den 1970er Jahre schossen die sektiererischen kommunistischen, maoistischen und trotzkistischen Gruppen, die in der SPD alle keine Heimat finden konnten, wie Pilze aus dem Boden, und obwohl sie nie eine relevante Zahl erreichten, bereiteten sie den Boden für eine ganz andere Bewegung.

Dennis L. Meadows
Ende der 1970er Jahre wurden zwei Themen immanent, die für Schmidt beide nur illusionärer Unsinn waren. Das eine war der Pazifismus, das andere war die Umweltbewegung. Beides waren Themen, die die SPD in früheren Tagen schon vertreten hatte. In den 1960er Jahren machte die SPD Werbung mit dem "blauen Himmel über der Ruhr", das erste Mal, dass ein umweltpolitisches Thema überhaupt auf die Agenda kam. Spätestens unter Schmidt aber wurde dieses Thema fallen gelassen; alles was zählte, war die Konjunktur. Genau die aber wurde 1972 vom Bericht des Club of Rome unter Federführung von Dennis L. Meadows als Heilsbringer angezweifelt. Meadows postulierte die "Grenzen des Wachstums", die das kapitalistische System zwangsläufig erreichen werde und weshalb ein Umsteuern notwendig sei. Das Umweltthema, dies sei nebenbei erwähnt, wurde auch von der CDU völlig verpasst. Beide Volksparteien konzentrierten sich ebenso wie die FDP nur auf das Wirtschaftswachstum, und das ist bis heute so geblieben. Schmidt hatte aber auch kein Verständnis für den Pazifismus, den er sogar für rundheraus gefährlich hielt. Gegen alle Widerstände peitschte er im Parlament den NATO-Doppelbeschluss durch, der eine Nachrüstung mit Mittelstrecken-Atomraketen vorsah. Der ab 1980 erfolgte kometenhaft erfolgte Aufstieg der Grünen, der ersten erfolgreichen Parteineugründung seit dem BHE in den frühen 1950er Jahren, ist Ausdruck dieses Versagens Schmidts. Die SPD verlor dauerhaft Wählerschichten an die Grünen, die sie mit einer an dieser Stelle umsichtigeren Politik hätte behalten können.

Ein weiteres Problem der Reformpolitik, das die SPD die ganzen 1970er Jahre hindurch nicht losließ, war die Natur des Sozialstaats, in dem sie operierte. Es war eine sehr späte Wirkung des Paktes, den der Gewerkschaftsführer Legien 1919 mit Stinnes geschlossen hatte, und ebenso des Paktes, den Ebert mit Groener schloss. Diese beiden Pakte zementierten die SPD darauf, den Staat so zu nehmen, wie er von Bismarck konstruiert worden war, eine Grundkonstruktion, die weder die liberalen Verfassungsgeber von 1919 noch die Versammlung von 1948/49 entscheidend änderten. Die SPD sah sich also mit einem Sozialstaat konfrontiert, der auf  erworbenen Versicherungsansprüchen beruhte und damit eine wohlfahrtsstaatliche Steuerungspolitik in sozialdemokratischem Sinne wenn nicht unmöglich machte, so doch zumindest stark erschwerte. Das konservative Grundwesen des deutschen Sozialstaats änderte auch die SPD in ihrer Regierungszeit nicht. 

Otto Graf Lambsdorff 1978
Doch die Zeit der sozialliberalen Regierung neigte sich dem Ende zu. Nachdem der Wahlkampf 1980 noch einmal gewonnen worden war, was wohl zu einem Gutteil der polarisierenden Gestalt des Unions-Kanzlerkandidaten Franz Josef Strauß zu verdanken war. In der FDP wurde zu diesem Zeitpunkt aber die monetaristische oder neoliberale Strömung unter Otto Graf Lambsdorff maßgeblich; die Protagonisten der Sozialliberalität, die auf dem Freiburger Parteitag 1971 dominiert hatten, waren praktisch ausgeschaltet. 1982 stellte Lambsdorff, damals Wirtschaftsminister, das so genannte "Lambsdorff-Papier" vor, das Thesen zur "Überwindung der Wachstumsschwäche" in Deutschland enthielt, die mit SPD-Positionen völlig unvereinbar waren. Dies war das kalkulierte Scheidungspapier von der SPD. Die FDP-Minister traten geschlossen zurück, und Helmut Kohl wurde mit konstruktivem Misstrauensvotum zum Kanzler gewählt. 1983 wurde der Bundestag wie schon 1972 mit verlorener Vertrauensfrage aufgelöst und Neuwahlen durchgeführt. Da die Rezession der frühen 1980er Jahre auch dank der Schmidt'schen Konjunkturprogramme überwunden war, siegte die CDU mit dem taktisch geschickt gewählten Wahltermin auf ganzer Linie. Die SPD sank für 15 lange Jahre in die Opposition.

Neues Führungspersonal war rar in den 1980er Jahren. Hans Jochen Vogel, der regierende Münchner Bürgermeister, agierte glücklos als Kanzlerkandidat 1987. Die SPD übersprang die Generation der "Söhne" Brandts, der der Partei als überlebensgroßer Vorsitzender bis 1987 erhalten blieb und den Stuhl dann erst für Hans Jochen Vogel, dann für Björn Engholm und Rudolf Scharping freimachte, und ging direkt zu den "Enkeln" über. Die zwei großen Figuren dieser Generationen waren der Saarbrückener Oberbürgermeister und spätere Ministerpräsident des Saarlands, Oskar Lafontaine, und der ehemalige Juso-Vorsitzende und niedersächsische Landesvorsitzende Gerhard Schröder. Beides waren entgegengesetzte Charaktere, die sich jedoch in ihrem Ehrgeiz in nichts nachstanden. Für die Bundestagswahlen 1991 waren beide heiße Optionen als Kanzlerkandidat, und die Chancen standen gut, da die schwarz-gelbe Regierung rapide an Ansehen verlor und ihre Politik im Großen und Ganzen äußerst unerfolgreich war. Die Staatsverschuldung war enorm gestiegen, und die Arbeitslosenrate ebenso.

Lafontaine im Wahlkampf
Ein Sieg der SPD bei den anstehenden Wahlen schien wahrscheinlich, und bis zum Wahltermin 1991 war noch viel Aufbauarbeit zu leisten. Doch das Schicksal meinte es nicht wohl mit der SPD. Im November 1989 fiel die Mauer, und in den folgenden Tagen und Wochen brach das DDR-Regime so schnell, geräuschlos und vollkommen zusammen, wie es nie jemand vorausgesagt hatte. Die Dynamiken, die dieser Prozess freisetzte, überrollten alle Beobachter und Akteure. Für kurze Zeit gehörte die Stunde den Bürgerrechtsbewegungen der DDR. Dann jedoch fing sich die CDU, wesentlich schneller als die SPD. Kohl bewies den richtigen Instinkt und ging aufs Ganze, drängte auf die Wiedervereinigung unter Artikel 23, sprich: den Anschluss der DDR ans Bundesgebiet. Er trieb die innenpolitischen Gegner ebenso vor sich her wie die Verbündeten und Gorbatschow und erreichte sein Ziel schließlich. Die SPD dagegen agierte glücklos. In durchaus redlicher Absicht, die Probleme einer Wiedervereinigung völlig klar sehend, votierte Lafontaine damals für eine Föderation beider Staaten, für eine langsame, bremsende Vereinigung. Der SPD, die sich im Osten neu- und wiedergründete, misstraute man. Nichts fürchtete die SPD zu dieser Zeit so sehr wie kommunistische trojanische Pferde, die die Partei unterwandern könnten. Damit vergab die Partei ihre Chance. Ohne organisatorische Hilfe aus dem Westen, die die - im übrigen praktisch unbefleckte - Ost-SPD hätte stützen können, gewannen die Blockparteien von CDU und FDP ("Blockflöten") immer mehr an Zustimmung, überschüttet von monetärer und logistischer Hilfe aus dem Westen, die die Kollaborationsvergangenheit der Blockparteien souverän ignorierte und dies bis heute tut. Die SPD sackte in der Wählergunst bis zu den Volkskammerwahlen im März 1990 dramatisch ab, während die "Allianz für Deutschland" der CDU einen ebensolchen Aufstieg erlebte. Die Volkskammerwahlen brachten Lothar de Maizière an die Spitze, der seine Aufgabe hauptsächlich als Konkursverwalter und im schnellen Anschluss der DDR an die BRD sah.

Die Wirtschafts- und Währungsunion, die Kohl in diesen Tagen energisch betrieb, versuchte Lafontaines SPD ebenfalls auszubremsen, wiederum in klarer Sicht der Probleme, die ein völlig unrealistischer 1:1-Wechselkurs von D-Mark und Ostmark hervorrufen würde. Doch dies war keine Stunde des Nachdenkens. Lafontaine unterschätzte die Dynamiken und Stimmungen, derer sich Kohl bediente, vollständig. Bereits im Vorfeld der Wahlen verübte eine geistig behinderte Frau ein Attentat auf Lafontaine, der daraufhin für den Rest des Wahlkampfes ausfiel. Die SPD schwenkte nun halbherzig und opportunistisch um und rückte von Lafontaines Linie ab. Wählerstimmen brachte ihr dieser Last-Minute-Populismus nicht ein. In den Wahlen zum ersten gesamtdeutschen Bundestag Oktober 1990 fuhr die SPD eine katastrophale Niederlage ein.

Gerhard Schröder 1990 mit Max Streibl
Beim folgenden Einigungsboom hatte die SPD ebenfalls schlechte Karten. Zudem war sie in innerparteiliche Skandale verstrickt. Der Vorsitzende der Partei Björn Engholm, der als junges Nachwuchstalent gehandelt und als Spitzenhoffung gesehen wurde, verstrickte sich die Bartschel-Affäre und musste zurücktreten. Da sich die Partei nicht zwischen Lafontaine und Schröder entscheiden wollte, wählte sie die scheinbar sichere Zwischenlösung Rudolf Scharping, einen eher blassen Gesellen. Sie vertraute ihm so wenig, dass sie ihm im Wahlkampf 1994 - der für die SPD unter sehr günstigen Vorzeichen stand, da der Einigungsboom vorbei und einer scharfen, von der Bundesbank und unter maßgeblicher Einflussnahme Horst Köhlers herbeigeführten Rezession gewichen war - Schröder und Lafontaine als designierte Wirtschafts- und Finanzminister zur Seite stellte, eine schale Kopie der "Troika" von Brandt, Wehner und Schmidt, die auch keine Sekunde ernsthaft geglaubt wurde. Wären nicht die Überhangmandate gewesen, deren Regelung das Bundesverfassungsgericht 2009 als verfassungswidrig beurteilte, hätte Schwarz-Gelb bereits damals die Macht verloren. So aber schleppte sich die inzwischen kraftlos gewordene Regierung Kohl, die offenkundig keine Antworten auf die Dauerrezession aufweisen konnte, die sie maßgeblich mitgeschaffen hatte, noch vier weitere Jahre hin, während sie von Apologeten des Neoliberalismus immer weiter nach rechts gedrängt wurde (man denke nur an Roman Herzogs "Ruck"-Rede).

Lafontaine blieb in dieser Zeit nicht untätig. 1995 entmachtete er den bisherigen SPD-Vorsitzenden Scharping in einem bis dato wohl einmaligen Vorgang, indem er nach einer feurigen Rede auf dem Mannheimer Parteitag in eine Kampfabstimmung eintrat und diese gewann. Bereits 1990 hatte Gerhard Schröder in Niedersachsen gesiegt und war Ministerpräsident geworden. Die SPD besaß eine Mehrheit im Bundesrat. Traditionell war der Bundesrat ein eher konsensuales Geschöpf, das im Vermittlungsausschuss mit dem Bundestag die Mehrheit der Gesetze ohne große Probleme durchbringt. Anders wäre der Staat auch kaum zu regieren, da unterschiedliche Mehrheiten in beiden Häusern zum Wesen einer Zwei-Kammer-Demokratie gehören, egal, wie indirekt diese Kammern gewählt werden. Lafontaine schaltete ab 1997 auf volle Attacke. Er nutzte seinen Vorsitz im Bundesrat, um die Reformpolitik der schwarz-gelben Regierung gnadenlos zu blockieren und sie schlecht aussehen zu lassen, in Vorbereitung auf den Bundestagswahlkampf 1998. Es war lediglich eine Frage offen: welches der beiden SPD-Alphatiere würde Kanzlerkandidat werden?

Diese Entscheidung war keine, die man allzu leichtfertig einem Ehrgeizduell zuordnen sollte. Die beiden standen, auch wenn die nach außen demonstrierte Freundschaft geradezu plakativ waren, für unterschiedliche Strömungen in der SPD. Lafontaine stand für die alte, eher gewerkschaftlich orientierte SPD, eine Partei der Facharbeiter und kleinen Angestellten. Schröder stand für die Gruppierung der sozialen Aufsteiger und, vor allem, Gewinner. Er war ja selbst einer; legendär sein Rütteln an den Gitterstäben des Kanzleramts zu Juso-Zeiten. Um den Streit beizulegen einigten sie sich darauf, die im Frühjahr stattfindenden Landtagswahlen in Niedersachsen als eine Art kleine Bundestagswahl hochzuziehen: wenn Schröder sein Ergebnis signifkant verbesserte, beweise dies, dass er Wahlen gewinnen könne. Schröder hatte freilich hier die bessere Nase; er verbesserte die SPD um über 3% auf 47%.

Franz Müntefering, Konstrukteur des Wahlsiegs 1998 (2009)
Damit war die Sache klar. Schröder war Kanzlerkandidat der SPD, und obwohl manche Demoskopen einen knappen Wahlausgang und anschließende Große Koalition herbeigesagt hatten, reichte es Rot-Grün ziemlich locker, und das, obwohl sogar die PDS über die 5%-Hürde kam und sich entschloss, die rot-grüne Regierung zu tolerieren (obwohl das rechnerisch nicht notwendig war). Im Wahlkampf hatte die SPD erstmals die Hilfe professioneller Werbeagenturen genutzt und sich dabei auf einige wenige Zielgruppen konzentriert, während man den Rest als Stammwähler garantiert nahm oder ohnehin abgeschrieben hatte. Dieses aus den USA übernommene System hat sich bereits beim Bundestagswahlkampf 2009 deutlich überlebt und wirkte wohl nur wegen des kurzfristigen, einmaligen Knalleffekts. Langfristig lässt sich mit inhaltsleeren Phrasen offensichtlich keine Politik machen.

Die Anfangszeit der neue Regierung geriet alles andere als glücklich. Für viele überraschend hatte Oskar Lafontaine das Amt des Finanzministers angestrebt, dem man allgemein nicht allzuviel Einfluss im Kabinett nachsagte. Doch der Saarländer hatte wieder einmal den richtigen Instinkt gehabt: das Finanzministerium war entscheidend für die progressive Politik, die er zu betreiben gedachte. Viele der Themen, die er gerade auch auf europäischer oder sogar globaler Ebene anstieß erschienen damals als merkwürdig, rückwärtsgewandt und aus der Zeit gefallen; heute sind sie hochaktuell. Vor allem die Regulierung der Finanzmärkte hatte es Lafontaine angetan. Doch das brüchige Bündnis mit seinem Antagonisten Schröder hielt nicht länger als bis zum Wahltag. Der "Kanzler der Bosse" wollte es Tony Blair nachmachen und eine neoliberale Politik mit sozialdemokratischer Rhetorik durchführen. Er isolierte Lafontaine im Kabinett, weihte ihn nicht mehr ein und blockierte seine Vorhaben (legendär Fischers Ausspruch "Ihr glaubt doch wohl nicht, dass ihr Politik gegen die internationalen Finanzmärkte machen könnt"). Im März 1999 trat Lafontaine von allen Ämtern zurück, eine offensichtliche Kurzschlussreaktion, da er dadurch alle Möglichkeiten der politischen Einflussnahme aufgab - wenngleich die Entscheidung auch konsequent war.

In der Folgezeit schwenkte Rot-Grün rasch auf einen neuen Kurs ein. Fischer lenkte die Grünen auf dem Parteitag 1999 harsch auf einen "pragmatischen" Kurs, und Schröder verwandelte die SPD in einen reinen Kanzlerwahlverein. Die Partei ließ es mit sich machen. Die Koalition führte das Land in den ersten Krieg seit 1945 und machte sich ab 2003 daran, den Sozialstaat unter Beifall der bürgerlichen Neoliberalen zu demontieren. Doch das ist eine andere Geschichte, und für den Historiker sind diese Ereignisse noch zu frisch. Wer sich für die SPD in dieser Ära interessiert, dem sei mein tagespolitisches Blog "Oeffinger Freidenker" anempfohlen, wo ich immer wieder zu diesem Thema Stellung nehme.

Literaturhinweise: 

11 Kommentare:

  1. Es ist erstaunlich wie sehr die SPD die deutsche Geschichte der letzten 150 Jahre mitgeprägt hat. Allerdings hat sich die SPD seit Brandt wohl zu Tode gesiegt. Zumindest ist seitdem keine durchgehende Linie zu den Anfängen der SPD mehr erkennbar.

    PS
    "auf über 3%"
    Damit wäre Schröder nicht Kanzler geworden ;)

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  2. Oh, die hat gerade das letzte Jahrzehnt maßgeblich mitgeprägt. Nicht zum Besseren, aber geprägt zweifellos.

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  3. Das meinte ich mit durchgehender Linie. Die betriebliche Mitbestimmung hat auf die organisierte Facharbeiterschaft gezielt. Im Gegensatz dazu ist die Interventionspolitik von Rot - Grün (die langfristig wahrscheinlich wichtigste Änderung von Rot - Grün) nicht eine originäre Forderung der Gewerkschaften.

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  4. Gut, eine durchgehende Politiklinie über 150 Jahre wäre auch ein Desaster. Da haben sich so viele Dinge verändert, da kommt man nicht mehr dagegen an.

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  5. Sehr interessanter Text, vielen Dank dafür!

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  6. Ein ganz großes Lob. Habe beide Teile gerade auf dem Handy(!) gelesen - so fesselnd war der Text.

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  7. http://www.youtube.com/watch?v=8vFL0QWxugI

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  8. Vierter Absatz, zweiter Satz: "Weder würde man die wirtschaftliche Macht erneut in die Hände einiger weniger Kapitalisten geben, noch würde man die Macht in die Hände einiger weniger geben."

    ... da fehlen die anderen "einige wenige". :-)

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  9. Ein informativer Abriss mit guter Akzentuierung!

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